Donnerstag, 8. September 2005

Magie und Aberglaube

Liebe Esoteriker!

Das Aufklärungsprojekt ist gescheitert. Ich spreche hier nicht vom berühmt-berüchtigten Sexkoffer, sondern von den Idealen der Aufklärung, die man zeitlich im 18. Jahrhundert ansiedeln kann. Federführend waren die Franzosen, dicht gefolgt von den Deutschen und Engländern. Österreich war damals ein Teil von Albanien und hatte für die Aufklärung keine Zeit. In den blutigen Gulaschkriegen rang man lieber den Ungarn ein Rezept nach dem anderen ab und versaute dann erst wieder die als Suppe gedachte Speise mit Sauerkraut und zu viel Einbrenn.

Damals glaubten die Philosophen-Hoschis, wie z.B. Montesquieu, Voltaire und Rousseau in Frankreich oder Leibniz und Kant in Deutschland, dass der einzelne Mensch von den Fesseln der Kirche, des autoritären Staates und vor allem des Aberglaubens befreit werden müsse. Für die fortschrittlichen Protestanten waren Katholizismus und Aberglaube sowieso Synonyme. Diese Ermächtigung des Bürgers zum Entscheidungsträger in allen weltlichen, geistigen und geistlichen Angelegenheiten bedingte natürlich eine gewaltige Bildungsoffensive, die erst im Laufe der nächsten zwei Jahrhunderte schön langsam zu greifen begann. Im Zuge technisch-wissenschaftlicher Erneuerungen erhoffte man sich eine rein rationale Durchdringung und umfassende Erkenntnis der Welt, die man damals noch für ein präzises Uhrwerk hielt. Was ist aus den Träumen von damals geworden?

Blickt man hinter die Kulissen unserer ach so fortschrittlichen Zeit, fühlt man sich oft ins finsterste Mittelalter zurückversetzt. Horrorskope und ähnliche Spielereien sind ja noch irgendwie witzig, aber der Postrationalismus treibt noch ganz andere Blüten. Während man Wissenschaft und Technik vor zweihundert Jahren noch für die Speerspitzen der Bildungsreform hielt, sind es heute genau diese zwei Bereiche, die für den Normalbürger zunehmend in den Bereich der Magie abgleiten. Man fühlt sich geradezu entmündigt, wenn man für jeden Blödsinn einen Spezialisten braucht. Dieser undurchschaubaren Technik begegnen deshalb die meisten heutzutage mit magischen Ritualen. Wer von uns hat noch nicht versucht, den gestörten Fernseher dadurch zu kurieren, dass man ihm die heilenden Hände auflegt oder einen präzise ausgeführten Schlag versetzt? Wer von uns hat noch nicht sein Handy repariert, indem man es ordentlich schüttelt? Wer von uns verflucht nicht wütend seinen Computer, wenn der Geist der Maschine nicht auf flehentliche Bitten reagieren will?

Die moderne Technik hat auch dafür gesorgt, dass die mündliche Kommunikation wieder die Oberhand gewinnt. Während in der Aufklärung Verschriftlichung und Buchdruck als Allheilmittel gesehen wurden (Gutenbergtechnologie, um Mashall McLuhans Begriff zu verwenden - siehe Blogeintrag vom 15. Juni 2005), dominiert jetzt eindeutig das Mündliche: Radio, Fernsehen, (Video)telefonie, SMS, E-Mail - selbst die modernen schriftlichen Formate haben eine mündliche Qualität. Worin besteht der wesentliche Unterschied? Durch die Verschriftlichung werden Inhalte aus dem unmittelbaren (emotionalen) Kontext gelöst, ausgiebig reflektiert und sachlich wesentlich korrekter wiedergegeben. Deshalb will man auch heute noch viele Dinge zuerst "Schwarz auf Weiß" sehen. Die Vermündlichung unserer Gesellschaft hat zur Folge, dass man im Falle eines Wissensdefizits nicht mehr ein Buch zur Hand nimmt oder einen Spezialisten kontaktiert, sondern sich lieber auf das soziale Umfeld verlässt. Die beste Freundin wird schon wissen, wo der komische Ausschlag herkommt. Das Misstrauen gegenüber hergebrachtem Wissen wird merklich größer. Somit geben sich viele Zeitgenossen mit Gerüchten und Halbwahrheiten ab und bevorzugen diese spezielle Form des Aberglaubens gegenüber sachlich korrekten Informationen. Bei Jugendlichen ist dieses Phänomen ganz besonders stark ausgeprägt. Bevor man einem Erwachsenen traut, glaubt man lieber den Lügen des halbschwachsinnigen Nachbarbubens.

Die Sehnsucht nach dem Glauben ist ja riesengroß. Nur weil die Kirchen unfähig sind, die richtigen Antworten zu geben, heißt das noch lange nicht, dass die prinzipielle Bereitschaft dafür nicht gegeben ist. In Wahrheit wurde noch nie an so viel Schwachsinn geglaubt, wie in der heutigen Zeit. Besonders diejenigen, die sich von der Buchkultur völlig entfernt haben, sind den Gerüchten und Falschmeldungen der globalen Medienöffentlichkeit hilflos ausgeliefert. Diese ewig Suchenden klammern sich dann an irgendwelche Strohhalme, die sich natürlich nur als Modeerscheinungen herausstellen.

Warum haben Sekten keine Buchkultur? Warum läuft in manchen Koranschulen heute noch der Unterricht nur über das gesprochene Wort? Weil die Manipulation des Menschen über das Mündlich-Emotionale hervorragend funktioniert und Bücher mit ihrer Pluralität der Ideen und Inhalte gefährlich werden können. Warum haben sich denn die Kirche und der Adel auch bei uns jahrhundertelang gegen die Bildung der Masse gewehrt? Lesen ist und bleibt die subversivste Beschäftigung, die man sich nur vorstellen kann. Leider begreifen das nur die wenigsten.

Und wenn mir ein guter Bekannter wieder einmal die 12 Weisheiten des Dalai Lama schickt, die ich an 10 Freunde weiterschicken soll, weil ich sonst das Glück dieser Botschaft nie erfahren werde, dann glaube ich manchmal, dass über 2000 Jahre westlicher Kulturgeschichte für den Arsch waren.