Donnerstag, 1. September 2005

A la recherche de temps perdu

Liebe Zeitreisende!

In diesem Eintrag muss ich den Bogen von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913-27) über Michael Endes Momo (1973) bis hin zum verlorenen Jahr (aka Sitzenbleiben) spannen, um mich der Frage nach dem Wesen der Zeit zu nähern.



Die verlorene Zeit ist bei Proust die eigene Vergangenheit (hier die Zeit vor dem 1. Weltkrieg), insbesondere die Kindheit, mit ihren liebgewonnenen Kontinuitäten und Eigenheiten. Obwohl man noch immer am selben Ort lebt (hier Paris), führt der gesellschaftliche und technische Fortschritt aber zu einer immer rasanteren und radikaleren Veränderung der Lebensumstände. Der Mensch scheint in seiner linearen Existenz gefangen zu sein. Proust setzt dieser betrüblichen Gefangenschaft in der Zeit die Kraft der Erinnerung entgegen. Ich zitiere aus der Beschreibung des Romans in Kindlers neuem Literaturlexikon: "Wenn das Vergangene die Fähigkeit hat, im Gedächtnis wiederaufzuleben - und zwar in freier Abfolge und in vielschichtigen Überlagerungen -, so entzieht es sich unserem geläufigen, mathematisch fixierten Zeitbegriff. Die spontan rückerinnerte Vergangenheit strömt in die Gegenwart herein; fast immer ist es ein unwillkürlicher Gedächtnisakt - mémoire involuntaire -, der das erinnerte, frühere Ich zurückbringt. Nicht die äußere, chronometrisch meßbare Zeit hat Bedeutung, ausschlaggebend ist allein die seelische Wirklichkeit, die innere Zeit, die dureé réelle." Der Mensch hat also die Fähigkeit, in seinem Leben zum Zeitreisenden zu werden und sein eigenes früheres Ich zu besuchen, oder, in ganz seltenen Fällen, wieder eins mit ihm zu werden. Der sich erinnerende Mensch gewinnt also, wenn auch nur für Augenblicke, die verlorene Zeit zurück.
Im Pilotfilm der Serie Deep Space Nine, "Der Abgesandte", geht es übrigens um eine interessante Variation dieses Themas. Hier ist Ben Sisko Gefangener eines einzigen Moments seiner Vergangenheit, nämlich den Verlust seiner Frau, den er immer und immer wieder erlebt. Während Proust diese Fähigkeit zur Verschmelzung mit einem früheren Ich als höchstes Gut und lang ersehnte Flucht aus dem Hier und Jetzt begreift, wird sie bei Sisko zum Fluch. Erst der Wiedereintritt in die lineare Zeit bedeutet Erlösung.



In Michael Endes Momo wird die Begrenztheit der menschlichen Existenz auf eine gänzlich andere Weise überwunden. Statt der nostalgischen Erinnerung wirkt hier die Fantasie als befreiende Kraft, die den Menschen aus dem räumlichen und zeitlichen Korsett schlüpfen lässt und Erfahrungsräume jenseits des grauen Alltags eröffnet. Momo, die einfach so in den Tag hineinlebt und ihre Energie und Lebensfreude aus Geschichten und Spielen gewinnt, ist sozusagen die Verkörperung dieser Macht. Ihre Widersacher sind die grauen Herren der Zeitsparkasse, die plötzlich in der Stadt auftauchen und den ahnungslosen Bürgern vorrechnen, wie viel Zeit sie eigentlich mit nutzlosen Dingen verschwenden. Die Degradierung der Zeit zu einer Ware, bzw. zu einem Zahlungsmittel, wird hier zum großen Übel der modernen Gesellschaft. Während die armen Menschen immer gehetzter werden, konsumieren die grauen Herren die gesparte Zeit ihrer Opfer in Form von Zigarren, die sie aus den Blättern der konservierten Zeitblumen herstellen. Michael Endes Buch ist ein einziges Plädoyer für den verschwenderischen Umgang mit Zeit - vorausgesetzt es handelt sich um soziale Kontakte und die Welt der Fantasie.

In unserer Gesellschaft wird auch viel von verlorener und verschwendeter Zeit geredet. Wer in der Schule sitzen bleibt oder an der Uni ein paar Semester länger braucht, verliert oft schon mal ein ganzes Jahr. Dabei sollte doch jeder wissen: Zeit ist Geld und Geld ist bekanntlich heilig. Also gilt die Zeit, gleich nach dem Geld, als höchstes Gut und damit hat man gefälligst sorgsam umzugehen. Zeit ist Geld bedeutet ja auch, dass man Zeit sparen und investieren kann. Wie in der Finanzwelt geht unsere Instantgesellschaft zunehmend von längerfristigen Anlageformen weg und konzentriert sich auf die Spekulation mit Risikokapital. Wie beim Roulette oder Lotto träumt man davon, mit möglichst wenig Einsatz möglichst viel Gewinn zu erzielen. Das gilt beim Lernen ebenso, wie im Umgang mit anderen Menschen.
Im Job spart man Zeit, indem man ein Höchstmaß an Selbstorganisation und Professionalität an den Tag legt (Effizienz), im Privatleben, indem man die paar wenigen Augenblicke zusammen besonders intensiv erlebt (Quality Time). Was machen wir aber eigentlich mit dieser ganzen gesparten Zeit, die durch technische Neuerungen immer noch mehr wird? Wir konsumieren sie beim Internetsurfen, beim Zappen, beim Herumlungern, beim Trödeln, beim Einkaufen, beim Unentschlossen sein, beim Jammern, beim Versinken in Selbstmitleid, und beim Ertragen des Weltschmerzes. Dafür wenden wir jede Woche viele, viele Stunden auf. Deshalb bleibt uns auch so wenig Zeit für die Dinge, die wir eigentlich so gerne machen würden. Es ist aber nicht der Stress, der uns daran hindert, sondern die Sinnlosigkeit der oben aufgezählten Dinge, die schlapp und teilnahmslos macht. Wir brauchen keine grauen Herren, die uns die Zeit wegrauchen: das machen wir schon ganz gut alleine.

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2 Comments:

At 3. September 2005 um 10:55, Anonymous Anonym said...

Ich verstehe ja auch nie, warum Leute unbedingt in der Mindeststudienzeit einen Abschluß machen wollen. Was haben die dann vom Studium? Nur, wenn man sich ein bisschen mehr Zeit nimmt, kann man seine eigenen Interessen entfalten und sich wirklich orientieren.

Da fallen mir auch noch zwei Filme mit Erinnerungsmomenten ein: BRAIN CANDY, wo eine Prozac-ähnliche Droge den glücklichsten Moment in den Erinnerungen ausfindig macht und ad infinitum repliziert. Das macht zunächst glücklich, lähmt die Menschen aber zunehmend. Der andere: BUTTERFLY EFFECT, wo der Held in seine eigenen Gedächtnislücken zurückreisen kann und innerhalb dieser die Geschehnisse so verändert, daß sie Auswirkungen auf seine Gegenwart haben.

 
At 6. September 2005 um 14:03, Anonymous Anonym said...

wow......könn ma mal auf einen kaffee (oder in deinem Fall Tee) gehen und du erklärst mir das nochmal?

 

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