Samstag, 10. September 2005

Neo-Biedermeier

Liebe Spießbürger!

Bevor ich jetzt erkläre, was ich mit Neo-Biedermeier meine, sollte ich vielleicht zuerst kurz definieren, was der Biedermeier ursprünglich war. Unser geliebtes Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur stellt in seiner Online-Enzyklopädie www.aeiou.at folgendes über diese Periode zwischen 1815 (Wiener Kongress) und 1848 (Märzrevolution) fest:

Wichtig für das Entstehen des Biedermeier war die Enttäuschung nach der politischen Restauration 1815 und die beinahe völlige Abkehr vom öffentlich-politischen Leben. Nach der Epoche des feierlichen Barock und des gezierten (Quasi-)Rokoko stellt das Biedermeier eine Flucht in eine behagliche Genussfreudigkeit, in eine "heimliche" Weltgeborgenheit, dar. Da das Bürgertum, das zu Geld und Ansehen gelangt war, im Metternichschen Polizeistaat von jeder Einflussnahme auf die Staatsgeschäfte fern gehalten wurde, traten die persönlichen, rein privaten Interessen in den Vordergrund. Wichtiges Anliegen wurde die Gestaltung der Freizeit. Man suchte Vergnügen und Unterhaltung auf der Landpartie, beim Heurigen, im Prater, in Tanzlokalen, im Kaffeehaus und im Theater - nicht zuletzt als Ablenkung vom harten Alltag, der tristen sozialen Lage und der unsicheren politischen Situation.

Bei de.wikipedia.org erfährt man dann noch, dass der Begriff erst in den Revolutionsjahren um die Jahrhundertmitte entstand und den uns heute bekannten negativen Beigeschmack bekam:

Der Mensch des Biedermeier wird als entpolitisierter, von naiv-obrigkeitstreuen Bestrebungen und Harmoniesüchteleien getriebener Kleinbürger karikiert.

Dieses Klischee ist ein hervorragender Ausgangspunkt für den eigentlichen Inhalt dieses Eintrags: den Neo-Biedermeier. Damit meine ich eine Entwicklungstendenz in unserer Gesellschaft, die in den letzten Jahren immer augenfälliger wird und besonders im studentischen Umfeld wie ein Virus um sich greift. Dazu eine kleine Anekdote: Als eine Mitstudentin vor ein paar Jahren im Spanischkurs gefragt wurde, womit sie ihre Freizeit verbringt, antwortete sie: Meine Freundinnen und ich laden uns gegenseitig zum Essen oder zu Kaffee und Muffins ein und dann quatschen wir stundenlang. "Moment mal!", dachte ich mir, "Ist die liebe Bettina nicht gerade mal 20 Jahre alt? Was macht sie denn, wenn sie 40 ist? Tauben füttern im Park?"
Damals hielt ich das noch für einen Einzelfall, aber mittlerweile weiß ich, dass das der Normalfall ist, besonders hier in Salzburg. Man blendet einfach die Welt da draussen aus und lebt in der eigenen virtuellen Wirklichkeit. Im Gegensatz zum Biedermeier des 19. Jahrhunderts handelt es sich auch nicht um einen resignierten Rückzug aus der öffentlichen Sphäre ins Privatleben: Da man weder Zeitung liest noch sonst irgendwie informiert oder involviert ist, könnte man in der öffentlichen Diskussion auch gar nicht mitmischen. Deshalb diskutiert man lieber die wirklich wichtigen Dinge im Leben: warum der Stefan mit der Karin Schluss gemacht hat; warum der böse Sommer heuer nur so kurz war; warum die Paris Hilton so doof ist. Nur mit Widerwillen verlässt man die eigenen vier Wände: Wer zwei Stunden auf die Uni muss oder Einkaufen geht, darf sich dafür den Rest des Tages erholen. Rausgehen ist aber auch so furchtbar anstrengend! Viel lieber flüchtet man sich in die virtuelle Welt von Sunnydale oder Stars Hollow, wo sich das richtige Leben abspielt. Die einzige verbleibende Ambition ist die größtmögliche Ruhe: Suppenfaktor 10.
Ich weiß ja nicht, ob uns die Regierung Tranquilizer ins Trinkwasser mischt, aber die Gelassenheit, mit der man damit das Leben an sich vorbeiziehen lässt, erstaunt mich nicht wenig.

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3 Comments:

At 11. September 2005 um 11:24, Blogger Christian Genzel said...

Deshalb haben wir ja auch nur 25% Wahlbeteiligung unter den Studenten. Die restlichen 75% nehmen sich dann aber auch der schweren Aufgabe an, im Shamrock oder in einer Mensa ihrer Wahl über die schlimmen Zustände auf den Unis zu jammern.

 
At 28. Februar 2010 um 02:30, Blogger Unknown said...

Sehr schön geschrieben. Ich arbeite gerade an der digitalen Variante des NeoBiedermeier - anno 2010x.

Grüsse aus dem spätrömisch dekadenten München
avichr http://bit.ly/neobiedermeier

 
At 23. März 2015 um 15:12, Anonymous Patrick Horn said...

Interessant – dies ist der ÄLTESTE Beitrag, den ich nach einer (zugegeben nicht allzu langen) Google-Recherche finden konnte, in dem der Begriff "Neo-Biedermeier" auftaucht ...

Auch 2015 scheint es noch aktuell zu sein, und wie zu befürchten noch eine ganze Zeit lang ...

Siehe z.B.

Spiegel vom 23.03.2015:
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/helmut-daeuble-ueber-die-gewinner-der-finanzkrise-a-1024704.html

Die ZEIT vom 12.07.2011:
http://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-07/schwarz-gruen-zeitgeist

 

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