Freitag, 30. Juni 2006

Interface

Liebe Schnittstellen!

Die Frage WER BIN ICH? bzw. WO LÄSST SICH MEIN SELBST LOKALISIEREN? hat die Menschheit seit jeher beschäftigt. Individualität und Selbstbestimmung treten ja erst dann als Konzepte auf, wenn ich mich als fundamental anders als meine Umgebung empfinde. Die Grundvoraussetzung für das Selbst(wert)gefühl ist somit die Grenze bzw. die Selbstbegrenzung.

Die allererste Zelle trat erst dann als individuelles Lebewesen auf den Plan, als sie es schaffte, eine Membran um ihre Organellen zu bilden, die diese vom Ozean trennte. Diese Membran ist zwar durchlässig nach beiden Richtungen, aber die Idee eines Austausches (zwischen innen und außen) ist erst dann möglich, wenn die Zelle als vom Ozean zu unterscheidendes Phänomen auftritt. Diese Loslösung von der Umwelt wurde noch viel radikaler, als die ersten Lebewesen das Wasser verließen. Die Membran wurde zur Haut innerhalb derer der Ozean in Form der interzellulären Flüssigkeit mitgenommen wurde.

Es liegt also nahe den Menschen als biologisches Wesen zu definieren, dessen Haut das Selbst von der Umgebung trennt. Schneidet man ihn auf, fließt das Selbst - der Lebenssaft - heraus. Lange Zeit wurde Blut mit Selbst identifiziert und die Zeugen Jehovas glauben noch immer daran, dass eine Bluttransfusion zu einer Persönlichkeitsveränderung führt. Erst später kam man dazu das Selbst mit dem Gehirn in Verbindung zu bringen. Die grauen Zellen wurden zum Sitz der Identität und der Gehirntod zu deren Ende.

In neueren Theorien des Selbst geht man von der Lokalisierbarkeit des Selbst bzw. des Ichs völlig weg. In CONSCIOUSNESS EXPLAINED (1991) entwirft Daniel C. Dennett das Selbst als narratives Gravitationszentrum, um das Bilder, Geschichten und Ideen kreisen, das aber selbst keine Existenz hat. In "Emergent Self" (1996) argumentiert Francisco Varela in Anlehung an Dennett:
"Mein Selbstgefühl existiert, weil es mir eine Schnittstelle zur Welt verschafft. Ich bin 'ich' für Interaktionen, aber substantiell, in dem Sinn, daß es sich irgendwo lokalisieren läßt, existiert mein 'Ich' nicht."

Slavoj Zizek drückt dies so aus:
"Auf der Ebene der materiellen Realität (einschließlich der psychologischen Realität der "inneren Erfahrungen") gibt es definitiv kein Selbst. Das Selbst ist nicht der "innere Kern" eines Organismus, sondern ein Oberflächen-Effekt, d.h. ein "echtes" menschliches Selbst funktioniert gewissermaßen wie ein Computerbildschirm. "Dahinter" befindet sich nichts als das Netzwerk einer "selbst-losen" neuronalen Maschinerie." Das Gesicht ist wie ein Interface-Screen, mit dem man interagieren kann, aber dahinter existiert kein materielles Selbst. "Das "Subjekt" taucht dann auf, wen die "Membran", die Oberfläche, die die Innenseite von der Außenseite trennt, als ihr aktiver Vermittler zu fungieren beginnt, statt einfach nur das passive Medium ihrer Interaktion zu sein."

Einfacher gesagt: Das Selbst ist nicht einfach so da, sondern muss - wie ein Theaterstück - ständig zur Aufführung gebracht werden, um existieren zu können. Das Selbst ist performativ, also von der täglichen Performance abhängig. Da man aber für jeweils ein anderes Publikum spielt, ist auch das Stück immer etwas anders. Selbst bei einer Vorführung für den Eigenbedarf, bei der nur das ICH im Publikum sitzt, werden Inhalte auf eine innere Leinwand projiziert. Man ist nicht einfach nur da, sondern führt sich selbst Inhalte vor Augen, mit denen man sich intensiv auseinandersetzt.

Was das Ich / Selbst am meisten beschäftigt sind interessanterweise Oberflächenerfahrungen, also Interaktionen mit der Umwelt und insbesondere anderen Lebewesen. Dennett schreibt: "... all sensual pleasure consists in playing around with one's own boundary, or someone else's". Der Entzug dieser Erfahrungen spielt eine ebenso bedeutende Rolle.

Dies ist natürlich die genaue Umkehrung des buddhistischen oder christlichen Weltbildes. Dort wird man nämlich erst dann so richtig zu einer eigenen Persönlichkeit, wenn man sich der Verstrickung mit der Welt und der permanenten Interaktion entzieht. Religion ist immer essentialistisch und geht von einem Selbst aus, das sozusagen angelegt ist und unabhängig von der Welt existiert. Das wahre Selbst entsteht nicht erst in Interaktion mit der Umwelt, sondern muss in sich selbst als Reaktion auf die Welt entdeckt werden. Der Missionar drückt den Engeborenen also nicht eine christliche Identität aufs Auge, sondern hilft ihnen das christliche Selbst in sich zu entdecken. Im christlich-missionarischen Sinn sind wir einander Geburtshelfer, was das wahre Selbst anbelangt.

Ich kann jetzt auch keine Lösung anbieten, was die Entwicklung des Selbst anbelangt, aber vielleicht ist es ja interessant darüber nachzudenken.