Widerschein
Liebe Ästheten!
"Sometimes there's so much beauty in the world I feel like I can't take it... and my heart is going to cave in." Dieser Satz ist vielleicht der bemerkenswerteste in AMERICAN BEAUTY (1999), einem Film der ohnehin mehrere merk-würdige Momente aufzuweisen hat. Mich interessiert hier vor allem die körperliche Reaktion, die vom unmittelbaren, sinnlichen Erleben von Schönheit ausgelöst wird.
Die tragische Ironie in FAUST ist ja gerade, dass er trotz diabolischer Hilfe nie im Stande ist zum Augenblicke "Verweile doch, Du bist so schön!" zu sagen. Das scheint das Schicksal vieler Westeuropäer zu sein, die im Zustand des Komparativs leben. Sie sind zwar schöner, reicher, sportlicher, dynamischer, erfolgreicher und insgesamt besser als viele andere, aber das Damoklesschwert des Superlativs schwebt ewig über ihnen: die Decke, nach der man sich streckt, ist nie erreicht. Wird man gelegentlich mit einer euphorischen Beschreibung eines perfekten Augenblicks oder Urlaubs konfrontiert, entlarven wir, wenn auch nur für uns selbst, das Erzählte geschwind als grobe Übertreibung. Das perfekte Glück darf es nicht geben. Wer trotzdem vermeint, seiner teilhaftig geworden zu sein, irrt mit großer Sicherheit aufs Gröbste oder sollte anstandshalber gefälligst die Klappe halten. Das Glück des anderen hat für viele etwas Obszönes.
Gerät der Westeuropäer in die Gefahr einen perfekten Moment zu erleben, ergreift er sofort geeignete Maßnahmen, um sich davon gekonnt zu distanzieren. Er zückt instinktiv seine Kamera oder sein Handy, um das Schöne einzufangen und für die Ewigkeit zu erhalten. Somit verwandelt er sich sofort vom überwältigten, passiven Genießer eines unerwarteten Gefühlsausbruchs in den rational agierenden Regisseur eines Dokumentarbeitrags, dessen Ziel es ist Schönheit technisch zu konservieren.
Emotional leben wir großteils von solchen Konserven, die uns in in Buch-, CD- oder Filmform Schönheit aufbereiten, um sie konsumierbar zu machen. Die ästhetische Qualität des Kunstwerks ist aber nicht nur eine sekundäre Erfahrung. In DER AUFSTAND GEGEN DIE SEKUNDÄRE WELT. BEMERKUNGEN ZU EINER ÄSTHETIK DER ANWESENHEIT (München: Hanser, 1999) verteidigt der Essenzialist Botho Strauß gerade das Kunstwerk als Erlebensmittel des Unmittelbaren:
"Die Unangemessenheit der sprachlichen Explikation, die Armut der "Antwort", die wir auf die Fülle des Empfangs geben, wenn wir zum Beispiel aufmerksam Musik hören, ist eine erste Erfahrung des Unmittelbaren und der Andersheit, die im Kunstwerk Asyl genießen. Das unerklärlich Schöne verbleibt in der complicatio, in der Eingefaßtheit aller Bedeutungen, es wir unverletzt, unenthüllt erlebt. Es bringt uns in Berührung "mit dem Stoff, der unerträumt ist in unserer Stofflichkeit". Weder ist es ein utopisches Humanum noch ein höherer ästhetischer Gemütsreflex, noch überhaupt etwas vom Menschen Vermochtes, das sich in der Schönheit verbirgt. Vielmehr klingt in ihr an oder schimmert durch: Realpräsenz, Anwesenheit, und zwar unabhängig davon, welchen historischen oder biografischen Interessen sich die Entstehung eines Romans oder eines Gemäldes verdankt. Ob man einem Kunstwerk begnet sei, meinte der metaphysisch nicht leicht erregbare Paul Válery, erkenne man daran, ob es einen im Zustand der Inspiriertheit zurückläßt.
Wir antworten mit Widerschein." (S. 50)
Das klingt jetzt widersprüchlich: Schönheit wird ja eindeutig als ästhetische Komponente des Kunstwerks, also des künstlich Geschaffenen, vermittelt und ist nicht unmittelbar, also ohne fremde Vermittlungsarbeit, erfahrbar. Strauß aber meint, dass im starren Käfig der Form das Schöne jenseits von Sprache und Vermittlungstätigkeit erlebbar bleibt.
Wenn Elizabeth Bishop ihre Dichterkollegin in "Invitation to Miss Marianne Moore" auffordert, "from Brooklyn, over the Brooklyn Bridge, on this fine morning" nach Manhattan zu kommen, dann spricht sie in einer Strophe Moores Fähigkeit an, Grammatik, also die starre Form, zum Leuchten zu bringen:
With dynasties of negative constructions
darkening and dying around you,
with grammar that suddenly turns and shines
like flocks of sandpipers flying,
please come flying.
Wenn Wittgenstein meint "Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.", ignoriert er den festen Glauben vieler Künstler, dass gerade jenseits der Sprache, der Logik und somit des Erklärbaren die Schönheit im Kunstwerk erfahrbar wird.
Zum Abschluss noch einen Augenblick, zu dem ich "Verweile doch, Du bist so schön!" sagte: Als ich letztes Jahr beim Konzert der Madagascar Allstars in London war, die übrigens übermorgen in Wien auftreten, kam eine so phantastische Stimmung auf, dass es Musiker und Publikum gleichermaßen mitgerissen hat. Bis dahin wusste ich nicht wie es ist, wenn man vor lauter erlebter Schönheit so ausgefüllt ist, dass man weinen könnte, um nicht überzugehen. Jetzt mögen mir manche grobe Übertreibung vorwerfen, aber ich bin trotzdem froh, dass ich das erleben durfte.
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