Dienstag, 10. Juni 2008

Feuchtgebiete

Liebe Proktologen!

"Dingen auf den Grund gehen, bis man fast kotzen muss." (S. 79) Dieser Satz aus Charlotte Roches Feuchtgebiete (Köln: DuMont, 2008) scheint programmatisch zu sein. Helen Hemel, die 18-jährige Protagonistin des 'Romans' hat nur wenige Interessen in ihrem jungen Leben, aber diesen geht sie konsequent auf den Grund. So, zum Beispiel, beim "Muschistudium" (S. 116) ebendieser, wobei sie, als eher praktisch veranlagtes Mädchen, nicht gedanklich, sondern immer nur physisch in ihr Innerstes vordringt. Ihr Horizont endet da, wo das Einführen diverser Objekte in ihre Körperöffnungen an anatomische Grenzen stößt. Der explorative Vorstoß in das eigene Selbst ist somit oft zum Scheitern verurteilt und endet bereits an der Oberfläche. Man sieht nicht hinein, in diese Helen Hemel, aber dafür bekommt man viel davon mit, was an ihrer Außengrenze passiert, besonders dort, wo sich der Körper öffnet oder aufgerissen wird, wo er Stoffe mit der Umgebung austauscht. Die Feuchtgebiete, die Helen hier kultiviert, verschwimmen des Öfteren, da sie es darauf angelegt hat das verlorene Material über andere Öffnungen wieder für sich zu gewinnen. Erstaunlich viel lässt sich oral reintegrieren.

Geistig und emotional ist dieses arme Scheidungskind, das sich nichts sehnlicher wünscht als die eigenen Eltern wieder zusammenzubringen, im Volksschulalter stecken geblieben. Helens Rückkehr von der Toilette, die wegen einer fehlenden Unterhose eine Urinspur zur Folge hat, führt direkt in folgende heitere Episode über:
"Es klopft, und jemand geht mit weißen Gesundheitsschuhen die Pipistraße entlang. [...] Noch mehr Leute kommen rein. Die Tropfen werden alle zertrampelt. Die Leute haben alle mein Pipi unter ihren Gesundheitsschuhen. Das ist genau mein Humor. Ich stelle mir vor, wie sie den ganzen Tag auf den verschiedenen Stationen für mich mein Revier markieren. Was machen die eigentlich hier, außer Pipistraßen von kleinen Mädchen kaputtmachen?" (S. 94)
Ja, sie ist ein echter Wonneproppen, unsere Helen, ein aufgewecktes Kind, das allen viel Freude bereitet. Mit Deutsch hat sie es nicht so, aber das gleicht sie locker mit Charme wieder aus. Wahrscheinlich habe ich mit obiger Bemerkung ein paar Volksschüler irritiert, die zu Recht von sich behaupten können, der korrekten Verwendung des Genitivs mächtig zu sein. Es heißt nämlich "Pipistraßen kleiner Mädchen", höre ich sie erzürnt einwenden, oder "Ich schaue in der Schublade meines Metallnachtschranks nach" statt "Ich schaue in der Schublade von meinem Metallnachtschrank nach." (S. 138) Womit sie natürlich Recht haben.

Obwohl die diversen Schmuddelficks der Helen cool und "entspannend geil" (S. 161) sind, hat sie ihre romantische Ader auch nach Jahren des Herumbumsens nicht eingebüßt: "Ich glaube, wenn ein Mann die Tränen von einer Frau isst, sind die beiden für immer verbunden." (S. 195) Wer es nicht glaubt: dieses Buch treibt einem tatsächlich die Tränen in die Augen.

Nach dieser etwas länger geratenen Einleitung sollten wir uns wieder Sachthemen zuwenden, die sich am besten als FAQ-Liste abarbeiten lassen:

(1) Handelt es sich bei diesem Buch um einen Roman?

Nun, ein Roman im klassischen Sinne zeichnet sich dadurch aus, dass glaubwürdige Charaktere mit realistischen Szenarien konfrontiert werden, die der Leser aus seinem unmittelbaren Erfahrungsschatz heraus nachvollziehen kann. Die Helden machen einen Entwicklungsprozess durch, den die Leserschaft mit großem Interesse verfolgt. Bei Helen Hemel handelt es sich aber um ein überzeichnetes Kunstprodukt, das schlicht und einfach eine destruktive Haltung zum eigenen Körper repräsentiert. Daran wird der Leser auch ständig erinnert. Diese 18-jährige setzt sich aus nichts zusammen außer Verbrechen gegen den guten Geschmack. Da entwickelt sich nichts, da geht es nicht in die Tiefe, da gibt es keine Subtilität. Nach wenigen Stunden schwindet das Buch bereits aus der Erinnerung und nach einer Woche ist es weg. Feuchtgebiete ist vor allem intellektuell schlüpfrig. Da ist nichts, woran man sich ein wenig anhalten könnte.

(2) Handelt es sich bei diesem Buch um Pornografie?

Leider nicht. Man hofft ja ständig, dass es bei diesem kleinen Luder nun endlich einmal zur Sache geht, aber jedes Mal bricht die Erzählung ab, wenn es spannend werden könnte. Sex spielt eigentlich eine untergeordnete Rolle: alles muss dreckig und grauslich sein und da passt das halt auch ganz gut dazu. Für Helen ist jede Art von sozialer Interaktion nur eine Flucht vor der eigenen Banalität und Leere. Lieber mit einem wildfremden Typen ficken als eine Nacht alleine verbringen zu müssen. Sie möchte Spuren hinterlassen, aber alles was sie hat sind ihre Körpersäfte. Also pisst, blutet, eitert, rotzt und kotzt sie überall hin. Helen ist eine völlig sinnentleerte Figur, bei der es nicht einmal mehr für einen Porno reicht. Dafür ist sie viel zu kaputt - psychisch und physisch.

(3) Handelt es sich bei diesem Buch um ein feministisches Manifesto?

Ich hoffe nicht. Der Feminismus liegt zwar danieder, aber von Charlotte Roche darf man sich dahingehend keine Impulse erwarten. Feuchtgebiete ist viel zu heterogen, viel zu banal und unüberlegt, um in irgendeiner Weise überzeugen zu können. Die paar Attacken gegen den Waschzwang sind zwar ganz nett, aber daraus eine neue Philosophie zu stricken ist lächerlich. Bewegungen leben von Vorbildern und Vorstreitern, nicht von hohlen Witzfiguren.

(4) Worum handelt es sich dann?

Beim Lesen fühlt man sich als Mitte 30-jähriger ständig an die gute alte Zeit erinnert, als man sich heimlich ein BRAVO ausborgte und die "Liebe, Sex, und Zärtlichkeiten"-Seite nach möglichen praktischen Infos durchforstete. Man war ständig von Halbwahrheiten und Spekulationen über sexuelle Praktiken umgeben und freute sich schon über jede Kleinigkeit, die irgendwo durchsickerte.
Feuchtgebiete ist im Prinzip ein BRAVO-Porno, die härtere Version dieser episodenhaften Einblicke in die scheinbar verruchte Welt des Geschlechtsverkehrs. Im Gegensatz zum Heft, das sich wenigstens ansatzweise dem Gedanken der Aufklärung verpflichtet fühlt, heizt Feuchtgebiete nur die Gerüchteküche an.
Vor dem ersten Kuss muss sich der Teenager heutzutage schon mit Analverkehr herumschlagen, weil man im Falle eines Falles gerüstet sein muss. Wie führt man eine Darmspülung erfolgreich durch, damit er keine Kacke auf den Pimmel kriegt? Oder will er das vielleicht haben? Deshalb immer vorher fragen, rät uns Helen. Dies ist nur einer von vielen lebenspraktischen Tipps, mit denen die Heldin keineswegs zurückhält: "Immer alles rauslassen, lautet meine Devise, sonst kriegt man Krebs." (S. 159) Als völlig unreflektiertes Wesen merkt sie natürlich nicht, dass ihre eigene Geisteshaltung viel zersetzender wirkt als jede Krankheit.

Es ist jedenfalls kein Wunder, dass sich vor allem Schüler auf das Buch stürzen. Nicht nur die Horrorfilme müssen immer blutiger werden, sondern auch die BRAVO. Charlotte Roche ist ein proktologisches Meisterstück gelungen: Wie die "Arschärzte" verdient auch sie ihr Geld damit, dass sie anderen im Allerwertesten herumbohrt.

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1 Comments:

At 14. Juli 2008 um 16:03, Blogger Christian Genzel said...

Ich glaub', das les' ich dann doch nicht.

 

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