Mittwoch, 13. Februar 2008

Die Deutschen

Liebe Patrioten!

Es gehört ja in Österreich durchaus zum guten Ton über die nördlichen Nachbarn zu schimpfen. In der Februarausgabe der Fussball-EM Beilage der Salzburger Nachrichten, ARENA 08, bedient Franzobel die üblichen Klischees: die Deutschen seien arrogant, besserwisserisch, herablassend, großkotzig, humorlos, und nirgendwo beliebt. Ihre positiven Eigenschaften (Genauigkeit, Direktheit, Ordnung, Effizienz, Sauberkeit, Geradlinigkeit, und Arbeitseifer) nötigten einem Respekt ab, machten sie aber dadurch keineswegs liebenswürdiger. Österreicher empfänden es geradezu als beleidigend, wenn sie im Ausland mit Deutschen verwechselt würden. "Nichts", so sprach schon Karl Kraus und wiederholt Franzobel, "trennt uns so sehr wie die gemeinsame Sprache."

Jeder Österreicher, der regelmäßig privaten und beruflichen Kontakt mit Deutschen hat, weiß natürlich, dass diese Vorurteile keineswegs stimmen. Trotzdem merkt man, dass deutsche Neuankömmlinge in Österreich gewisse Auffälligkeiten zeigen, die ich trotzdem als typisch deutsch bezeichnen würde. Ich bin hier um keinen Deut objektiver als irgendjemand sonst, aber ich versuche zumindest meine Sicht der Dinge zu erklären. Zuerst beginne ich mit ein paar Beobachtungen:

1) In Österreich bleibt man gerne sitzen. Wenn in der Mittagspause eine kleine Geburtstagsfeier auf dem Programm steht, die für 12 angesetzt ist, kann es auch schon einmal zwei oder halb drei werden. Die neue deutsche Kollegin wird hingegen schon um halb eins unruhig. Der Kuchen ist gegessen, der Kaffee ist getrunken, das Präsent übergeben - wozu muss ich jetzt noch hier sitzen bleiben?

2) Zum Thema Effizienz ein weiteres Beispiel: Ruft man die Kollegen per E-Mail zusammen, um über bestimmte Richtlinien zu diskutieren, sehen die Österreicher eine Gelegenheit sich mit den Kollegen auszutauschen und kommen gerne zur vereinbarten Zeit ins Besprechungszimmer. Ein deutscher Kollege aber fragt nach, ob diese Debatte tatsächlich nötig sei, wo doch bereits während der letzten Besprechung einige dieser Punkte erörtert wurden. Also begründet man seine Absichten und skizziert für besagten Kollegen einen Ablaufplan. Wird dieser als sinnvoll erachtet, ist auch der Kollege aus Deutschland bereit an diesem Treffen teilzunehmen.

3) Das Österreichische, wie auch das Bayerische, liebt die Konjunktive. Die meisten Gespräche beginnen mit oder enthalten ein "Kundadst du ...", "Daradst du ...", "Waradst du ..." oder "Hädadst du ...". Ein Beispiel aus dem Bayerischen: "Wos daradst du sogn, waun I da sogad, dass I mi gfrein dad, waundst mit mia ins Konzert gangadsd." Das Hochdeutsche hingegen vermeidet es um den heißen Brei herumzureden und kommt sofort zum Punkt, besonders dann, wenn sich der Sprecher im Recht fühlt. "So funktioniert das nicht. Da müssen wir ..." In E-Mails wird gerne auf Anrede und Grüße verzichtet, wenn man sich schon kennt. Da steht dann nur mehr: Bestellvorschläge: gefolgt von einer Liste. Das Wort "Liebe ____" in der Anrede bzw. in "Liebe Grüße" ist viel zu persönlich. "Hallo ____" und "Viele Grüße" werden bevorzugt.

4) Während einer beruflichen Besprechung macht die deutsche Kollegin einen offensichtlichen Fehler, den sie auch sofort ausbessert. Trotzdem ist sie peinlich berührt, läuft rot an, und hat sogar hinterher noch Bedenken, ob die anwesenden Vorgesetzten unter Umständen einen schlechten Eindruck gewonnen hätten.

Meine Theorie zur deutschen Grundbefindlichkeit, wenn es so etwas überhaupt gibt, sieht so aus: Im Prinzip werden Deutsche wie Österreicher in einem regionalen Kontext groß, der über eine eigene Sprache und Kultur verfügt. Im Gegensatz zu uns Österreichern zwingen sich die Deutschen aber diese Identität schrittweise aufzugeben. Über nichts spötteln die Deutschen mehr, als über regionale Färbungen, ob nun sprachlich oder kulturell. Diese Identität ersetzen sie mit einer (pangermanischen?) Vorstellung, wie man zu sein, zu reden und zu tun hat. Sie studieren prinzipiell in einem anderen Bundesland und arbeiten dann in einem dritten. Da sie auf ihre angeborene Identität verzichten, brauchen sie neue Maßstäbe, nach denen sie sich ausrichten können. Status, Erfolg, Verdienst, Vermögen, Respekt, Prestige etc. sind leicht skalierbar und dienen als Richtschnur. Die deutschen Tugenden sind nicht abgeboren, sondern für diese Erfolgsmaßstäbe von großer Bedeutung. Im Gegensatz zu den Amerikanern sind die Deutschen nicht so sehr an einem individuellen Lebensweg und der Realisierung individueller Wünsche interessiert, sondern an einem gesellschaftlichen Aufstieg. Das Ziel ist eine Position, nicht die Realisierung von Träumen. Dieses System birgt aber die Gefahr in sich, dass die Deutschen oft nicht wissen, wer sie sind. Ohne regionale Verwurzelung bleibt nur die schemenhafte deutsche Leitkultur, von der keiner so recht weiß, was man darunter zu verstehen hat.
So wie die Österreicher heimlich die Deutschen für ihre Sprache, Zielstrebigkeit, und Effizienz bewundern, so genießen die Deutschen in Österreich die entspanntere Atmosphäre und das Bekenntnis zum Regionalismus. Österreich mag zwar ein Land der Titel sein, aber ich traue mich zu wetten, dass deutsche Zwänge, Hierarchievorstellungen, und ihre ausgeprägte Regel- und Paragraphenhörigkeit viel weiter verbreitet sind als in Österreich.
Wie bei Goethes FAUST verweilen die Deutschen niemals im Augenblick, auch wenn er noch so schön ist, sondern nutzen diesen stets für eine Rückschau bzw. Vorschau. Was habe ich schon erreicht? Was steht noch auf dem Programm? Einfach mal hinsetzen, noch ein Keks nehmen, und die Zweckentfremdung des Daseins genießen. Dazu gibt es ein schönes Sprichwort:
Ma kau mehr dasitzn ois darenna.