Donnerstag, 9. September 2010

Xavier Naidoo

Liebe Xavianer!

Nach Steve Jobs und der Apple-Sekte wende ich mich heute dem nächsten Heilbringer zu: Xavier Naidoo. Auf den ersten Blick scheint es da kaum Übereinstimmungen zu geben, außer dass beide dick im Entertainmentbusiness sind, mörderisch Geld schäffeln, dabei den coolen Jungen raushängen lassen und kultisch verehrt werden. Dank meines Bruders hatte ich gestern die Gelegenheit den Xavier live in Linz zu sehen. In meinen Reaktionen bin ich etwas hin- und hergerissen, deshalb präsentiere ich beide Standpunkte hintereinander:

Der treue Fan spricht:

Eigentlich habe ich mich schon seit NICHT VON DIESER WELT (1998) sehr für XN interessiert. Das war damals etwas völlig Neues. Anspruchsvolle deutsche Musik (und Kinofilme) waren vor 15 Jahren nämlich die große Ausnahme. Man könnte behaupten, dass es die deutschen Rapper (Fanta4 und Rödelheim Hartreim Projekt) waren, die deutsche Texte wieder salonfähig machten. Nicht zufällig fing Xavier bei den Rödelheimern als Backgroundsänger an und wurde auch von Moses Pelham anfangs produziert. (Das waren die Sabrina Setlur Zeiten, wenn sich noch jemand erinnert.) Kraftvolle Stimme, interessante Texte, tolle Melodien - so wurde XN schnell zum Phänomen. Mir gefiel auch die Radikalität der nächsten Doppel-LP sehr gut, besonders DISC 2: ALLES FÜR DEN HERRN (2002). Damals war ich schon einmal bei einem Live-Konzert, das mir sehr gut gefallen hat. Danach verlor ich etwas das Interesse und bin jetzt erst wieder durch das Konzert in Linz up-to-date.

Das Wetter hielt sich trotz der Ankündigung von Regen schön zurück und die Stimmung war sowohl auf der Bühne als auch davor recht gut. Der Sound war hervorragend ausbalanciert und die Band super eingespielt. Insgesamt hatte ich das Gefühl, dass sich XN vor allem auf diesem Gebiet sehr gesteigert hat. Mit über zwei Stunden Konzert geizte er auch nicht mit seiner Präsenz, obwohl seine Show sicher anstrengend sein muss. Eine große Überraschung war das vorwiegend junge Publikum um die 20. Ich hätte eher mit einem 30er Schnitt gerechnet. Insgesamt war der Abend sehr gelungen, auch weil er mein Lieblingslied "Sie sieht mich nicht" am Schluss noch zum Besten gab.

Der zynische Analytiker spricht:

Vor acht Jahren sang XN in "Der Herr knickt alle Bäume" noch über die Apokalypse: "Man wird vor Leichen in den Straßen auf Stelzen gehn". Da war der gute Mann noch christlicher Fundamentalist und hatte Ecken und Kanten. Gestern hampelte dann ein Gute-Laune-Apostel über die Bühne, der super bei SEEED reinpassen würde: ein bisschen Reggae, ein bisschen Bläser, ein kleines Tänzchen auf der Bühne, Friede, Freude, Eierkuchen, ... Irgendwie war ich da im falschen Film. Die Lyrics schienen vor Jahren auch schon teilweise aus dem Poesiealbum einer 15-jährigen Opus Dei Anhängerin geklaut, aber irgendwie klang das noch viel authentischer. Jetzt stellt er sich hin und singt "Alles wird besser werden". Super! Hört nicht auf zu Träumen! Wenn wir alle zusammenhalten wird alles besser! Das Beste liegt noch vor uns! Ich habe ja nichts gegen Optimismus, aber außer diesen Plattitüden kam dann nicht mehr viel. Hansi Hinterseer singt auch von den schönen Bergen und der ewigen Liebe. Wo ist da noch der Unterschied? In "Ich brauche dich" textet XN:

Ich lass deinen Namen auf meinen Rücken schreiben. Er soll bleiben.
Mit jedem Rücken brauch ich nicht an Angst und Schrecken leiden.
Ich lass deinen Namen auf meinen Rücken schreiben. Er soll bleiben.
Mit jedem Rücken brauch ich nicht an Angst und Schrecken leiden.

Ich brauche dich. Und ich tausche nicht.
Ich liebe dich. Mehr sag ich nicht.
Ich werde dich lieben, ehren.
Jeden Morgen verdank ich dir.
Und diese Liebe soll sich vermehren.
Meine Hoffnung lastet ganz auf dir.

Auf dem Niveau schreibe ich jeden Abend fünf Lieder. Während die Show musikalisch wirklich erstklassig war, fielen die Texte leider viel zu seicht aus. Teilweise hatte ich den Eindruck, dass er für 15-jährige Mädels sang, denn außer Balladen und Durchhalteparolen kam da nicht viel daher. Ich verstehe schon, dass er nicht immer und überall super politisch sein kann, aber message-mäßig kam da nicht viel rüber (um es auf Neudeutsch zu sagen). Am schlimmsten war das Glaubensbekenntnis: "Sag JA zur Liebe! Sag JA zu Oberösterreich! Sag JA zu Österreich! Sag JA zu Europa! etc. Das tat echt weh. Während rund um mich die gepiercten baseballmützentragenden Vorstadt-Ghetto-Gangster alle Tränen in den Augen hatten, weil der coole X so tolle Botschaften auf Lager hatte, drängte sich mir einer meiner seltenen Arroganzanfälle auf: Kein Wunder, dass song lyrics nicht als Kunst angesehen werden, wenn da so unbedarft drauflos gereimt wird: In meinem Herzen habe ich Schmerzen. Mir ist nicht zum Scherzen. Du hast mich verlassen, ich kann es nicht fassen. Was soll ich jetzt machen? Mir ist nicht zum Lachen. Es tut weh, wenn man verliert. Wohin hab' ich mich jetzt verirrt? Davon war der gute X leider nicht allzu weit entfernt. Somit fühlte ich mich zwangsläufig an Hagen Rethers wunderbare Grönemeyer-Verarsche erinnert:
http://www.youtube.com/watch?v=qQl4R6_dEww

Zu Naidoos Verteidung möchte ich am Schluss noch hinzufügen, dass er wahrscheinlich - wie das Publikum auch - einfach einen netten Abend wollte, bei dem es um nicht viel ging außer um Ohrwürmer und greatest hits. Er weiß, was die Fans wollen, also gab er ihnen die simplen Texte, die man super mitsingen konnte. Das galt vir allem für die deutschen Texte. Sag JA zu unserer Sprache! Und jetzt alle die Hände in die Höhe! Sagt alle JA! Sagt alle NEIN! Sagt alle VIELLEICHT! Ich sage Schluss für heute.

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