Liebe Schlagerfans!
Ich spreche wahrscheinlich für uns alle, wenn ich mich über die menschenverachtende Engstirnigkeit beklage, mit der viele Menschen über unsere geliebte Musik herziehen. Ständig wird den Künstlern der Schlagermusik unterstellt, dass die Texte banal seien und die Melodien nicht über die Komplexität von Kinderliedern hinausgingen. Dagegen muss ich mich entschieden wehren! Deshalb möchte ich heute einen der größten Triumphe der Schlagermusik auf Herz und Nieren prüfen und Wortgewalt wie philosophischen Tiefgang dieses Meisterwerks im Detail aufzeigen. Roland Kaisers "Santa Maria" hielt sich 1980 unglaubliche fünf Wochen auf Platz 1 der deutschen Hitparade und darf deshalb als Klassiker auf seinem Gebiet gelten. Aber nun zum Text:
SANTA MARIA
Santa Maria, Insel, die aus Träumen geboren,
ich hab' meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt.
Santa Maria, nachts an deinen schneeweißen Stränden
hielt ich ihre Jugend in den Händen,
Glück, für das man keinen Namen kennt.
Santa Maria, die drittgrößte und geologisch älteste Insel der Azoren, liegt 55 Meilen südlich der Hauptinsel Sao Miguel. Die Azoren wiederum liegen 1000 km nordwestlich der Kanarischen Inseln im Atlantischen Ozean. Das Archipel wurde 1427 von den Portugiesen entdeckt und gehört seitdem zu Portugal, wenn auch mittlerweile durch ein eigenes Parlament die Autonomie der Inselgruppe (1976) großteils sichergestellt ist.
Der Ich-Erzähler bezieht sich bewusst auf Fragestellungen der postmodernen Philosophie, vor allem aber auf die Unwirklichkeit ("Insel, die aus Träumen geboren") und Unbeschreiblichkeit der Realität ("Glück, für das man keinen Namen kennt"). Gefangen im eigenen Diskurs versucht das postmoderne Subjekt vergeblich Erfahrungen in adäquate verbale Artefakte zu verwandeln. Die Ausgeliefertheit den eigenen Gefühlen gegenüber ("ich hab' meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt") übt versteckte Kritik am Diktat der Rationalität.
Auf subtile Weise führt der Erzähler das Gegenüber ein: im Possessivpronomen "ihre" wird die Präsenz einer weiteren Figur vorweggenommen, die hier nur mit Jugendlichkeit in Verbindung gebracht wird. Dies eröffnet einen Reigen von Gegensätzlichkeiten, der wesentlich zum Spannungsbogen des ganzen Liedes beiträgt. Nun aber zur zweiten Strophe:
Sie war ein Kind der Sonne, schön wie ein erwachender Morgen.
Heiß war ihr stolzer Blick, und tief in ihrem Inner'n verborgen
brannte die Sehnsucht,
Santa Maria, den Schritt zu wagen, Santa Maria,
vom Mädchen bis zur Frau.
Bereits hier erreicht der Text seinen komplexen Höhepunkt. Mit "Kind" greift der Erzähler das Thema Jugend wieder auf und führt es im Kontrast Mädchen-Frau weiter. Gleichzeitig wird hier eine Entwicklung skizziert: Die junge Frau befindet sich in einer Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt. Für diese kritischen Entwicklungsschritte im Leben eines jeden Menschen hat die Sozialanthropologie den Begriff "liminale Existenz" geprägt. Natürlich ist diese Grauzone zwischen zwei sozial klar definierten Positionen mit Risiken und Unsicherheiten verbunden ("den Schritt zu wagen"). Dies drückt sich sehr schön im Konflikt zwischen äußerem Gehabe ("stolzer Blick") und innerer Befindlichkeit ("brannte die Sehnsucht") aus.
Bemerkenswert ist auch die Ambiguität, die in der zweifachen Nennung des Inselnamens "Santa Maria" zum Ausdruck kommt. Da sich die Strophe eindeutig und ausschließlich mit der jungen Frau befasst, müssen wir davon ausgehen, dass sich "Santa Maria" in diesem Fall auf das Mädchen bezieht. Dies ist von entscheidender Bedeutung. Die Einwohner der Azoren sind zu 97% katholisch und gelten als besonders religiös. Die Insel trägt also nicht zufällig den Namen der heiligen Jungfrau und Gottesmutter Maria. Durch die Übertragung der Attribute Marias (Jungfräulichkeit, Reinheit) auf das Mädchen, wird die grundlegende Spannung des Liedes um die religiöse Dimension erweitert. Die Figuren führen, wie bereits erwähnt, eine Schwellenexistenz zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Rationalität und Gefühlen, zwischen Selbstbeherrschung und wildem Ausleben. Dies führt uns zur dritten Strophe:
Santa Maria, Insel, die aus Träumen geboren,
ich hab' meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt.
Santa Maria, ihre Wildheit ließ mich erleben,
mit ihr auf bunten Flügeln entschweben
in ein fernes, unbekanntes Land.
In der bedingungslosen Auskostung junger Liebe gelingt den beiden die Flucht in eine Traumwelt abseits moralischer Engstirnigkeit. In Ermangelung eines besseren Ausdrucks möchte ich diesen Zustand der totalen Losgelöstheit mit "Flow" bezeichnen, einen Begriff, den Mihaly Csikszentmihalyi in "Flow: The Psychology of Optimal Experience" (HarperPerennial, 1991), besonders im Kapitel 5, "The Body in Flow" (S. 94-116), im Bezug auf körperliche Erfahrungen näher ausführt. Dies kommt in der ersten Zeile der vierten Strophe besonders deutlich zum Ausdruck:
Wehrlos trieb ich dahin, im Zauber ihres Lächelns gefangen.
Doch als der Tag erwacht', sah ich die Tränen auf ihren Wangen,
Morgen hieß Abschied.
Santa Maria, und meine Heimat, Santa Maria, war so unendlich weit...
Das Glück nimmt ein jähes Ende. Mit der bevorstehenden Abreise stürzt die Welt der Illusionen in sich zusammen. Die Realität holt das junge Paar ein und erzwingt nach einer Nacht physischer Nähe die unausweichliche Trennung. Hier wird die Ausgeliefertheit des Menschen an externe Umstände thematisiert, die den einzelnen in ein Korsett aus Zwängen und Pflichten schnüren.
Mit der erneuten Nennung des Namens wird das ambigue Spiel fortgesetzt. Wird hier das Mädchen angesprochen? Nennt der bereits zurückgekehrte Gast die Insel seine (seelische) Heimat?
Santa Maria, Insel, die aus Träumen geboren,
ich hab' meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt.
Santa Maria, niemals mehr hab' ich so empfunden,
wie im Rausch der nächtlichen Stunden,
die Erinn'rung, sie wird nie vergeh'n.
Hier wird die Unwiederbringlichkeit menschlicher Erfahrung auf drastische Weise vor Augen geführt. Das perfekte Glück ist flüchtig und kann nur in der Erinnerung dauerhaft bestehen.
Ich hoffe sehr, dass mit dieser Analyse die Komplexität und philosophische Verankerung moderner Schlagertexte deutlich wird. Bevor sich das nächste Mal ein Kritiker zu einem weiteren oberflächlichen Pauschalurteil hinreißen lässt, sollte er sich lieber die Mühe machen und genau hinsehen. Es lohnt sich!
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