Montag, 5. März 2007

Verpasst

Liebe Live-Dabei-Seiende!

Wenn man jung ist, hat man ständig den Eindruck die tollsten Dinge zu verpassen. Kaum sitzt man eine Minute still in seinem Kämmerlein, beschleicht einen das beklemmende Gefühl, dass gerade irgendwelche Menschen, mit großer Wahrscheinlichkeit sogar die eigenen Bekannten, irgendwo, wahrscheinlich aber gleich um die Ecke, jede Menge Spaß haben, während man selbst wieder einmal mutterseelenalleine zu Hause rumhängt, Trübsal bläst und an der Ungerechtigkeit der Welt verzweifelt. Denn die anderen haben es im Leben einfach besser erwischt: Sie sehen gut aus, sind beliebt, reich, selbstsicher und sportlich.
Man schleppt sich oft widerwillig zu irgendwelchen Parties oder zum Fortgehen in die Altstadt, weil es ja sein könnte, dass sich plötzlich das Blatt wendet und man selbst die schönste Zeit seines Lebens verbringt, weil (a) wie aus dem Nichts dieses wahnsinnig nette Mädel (bzw. dieser wahnsinnig süße Typ) auftaucht und das Schicksal es will, dass man mit ihr (bzw. ihm) in ein stundenlanges Gespräch (or whatever) verwickelt wird, oder (b) die Stimmung plötzlich ins Positive umschlägt, weil ein begnadeter Komiker ein Feuerwerk an Gags loslässt, über das man noch Tage reden wird.
Nun, meine empirischen Forschungen haben ergeben, dass das Verhältnis ungefähr 10 zu 1 ist. Das bedeutet, dass man zehn Abende lang bei ohrenbetäubernder Musik völlig verschwitzt und sinnlos in der Gegend rumsteht und sich ohrfeigen könnte, weil man wieder einmal so blöd war, bis dann plötzlich einer der oben beschriebenen Glücksfälle eintrifft und man endlich für die Mühsal belohnt wird. Selbst bei dieser optimistischen Schätzung bleibt es fraglich, ob sich 30 Stunden elendster Langeweile auszahlen, wenn man dann mit zwei Stunden erstklassigen Entertainments entschädigt wird.

Ein deutliches Zeichen dafür, dass man alt wird, ist, dass man plötzlich nicht mehr das Gefühl hat alles zu verpassen, sondern bereits alles verpasst zu haben. Wenn man auf sein Leben zurückblickt geht einem oft ein "Hätte ich doch damals ..., als ich noch ..." durch den Kopf. Dabei muss man gar nicht auf die allseits bekannte midlife crisis warten: Viele 20-jährige bereuen, dass sie ihre Schulzeit nicht anders verbracht haben, und viele 25-jährige jammern, dass sie nicht mehr 18 sind und mit drei Stunden Schlaf nach einer durchzechten Nacht auskommen. Das ganze passiert eben schleichend und ist nicht plötzlich mit 40 da. Entscheidend ist aber in jedem Fall, dass man noch immer an der Wahnvorstellung leidet, dass sich alle anderen zu Tode amüsieren, während man selbst als kleines, graues Zahnrad im großen Getriebe des Weltgeschehens dahinrackert.

Es stehen einem immer mehrere dutzend Optionen offen. Man muss sich einfach nur fragen, was man heute Abend theoretisch alles machen könnte. Jede konkrete Entscheidung für etwas bedeutet, dass man auf eine Unzahl von Alternativerfahrungen verzichtet. Wie sagt Phil Connors so schön in UND TÄGLICH GRÜSST DAS MURMELTIER: "Du triffst Entscheidungen und lebst mit ihnen". Die meisten leben mit dem, was sie haben, treffen aber keine Entscheidungen mehr. Das mag daran liegen, dass sie sich einst so festgelegt haben, dass sie jetzt nicht mehr auskönnen oder andere über sich entscheiden ließen.

Deshalb möchte ich euch jetzt noch zwei weise Worte am Schluss dieses Eintrags mit auf den Weg geben. Mein Freund Tom, ein begnadeter Philosoph, sagte einst: "Die Gaudi im Leben muss man sich selbst machen." Womit er völlig recht hat. Und ein chinesisches Sprichwort lautet: "Wer seinen Job liebt, muss ein Leben lang nicht arbeiten." CARPE DIEM heißt nicht Freude an dem zu finden, was man nicht hat, sondern Freude in dem zu finden, was man tut. So spricht der weise Obi-Wan.

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Dienstag, 19. Dezember 2006

Die Zeit ist die Sklavin der Uhr

Liebe Chronometriker!

Fährt man mit dem Fahrrad von Lehen nach Sam (Messezentrum, Traktsteg über die Salzach, beim Fernheizwerk rechts rein, den Bach entlang bis Salzburg Nord), kommt man an folgendem Transparent vorbei: DIE ZEIT IST DIE SKLAVIN DER UHR.

Dieser "Sinnspruch" ist an einem Zaun befestigt und zieht sich über mehrere Meter hin. Denkt man nur für den Bruchteil einer Sekunde über diesen Satz nach, kommt er einem schnell merkwürdig vor. Nachdem nicht klar ist, in welchem Kontext diese "Weisheit" zu verstehen ist (Uhrenwerbung?), nehme ich sie, wie sie ist: DIE ZEIT IST DIE SKLAVIN DER UHR.

Oder anders: Die gemessene Größe ist die Sklavin des Messgeräts. Also ist nach dieser Logik auch die Radioaktivität die Sklavin des Geigerzählers und die Temperatur die Sklavin des Thermometers. Wenn man einmal von dem unbedeutenden Detail absieht, dass die Zeit nicht einmal eine konstante physikalische Größe ist, sondern laut Relativitätstheorie der Einflussnahme anderer Phänomene unterliegt, bleibt noch immer die magische Komponente dieses unheilvollen Satzes. Es wird hier nämlich behauptet, dass ich mit einer kulturellen Errungenschaft ein natürliches Phänomen unter Kontrolle bringen kann. Wenn ich also einem Tornado den Namen Charlie gebe und im Wetterbericht seine Geschichte erzähle sowie seinen Kurs vorhersage, übe ich auf magische Weise Kontrolle über eine Sache aus, die ich ja eigentlich nicht beeinflussen kann. Naming is taming.

Alle Kulturen gehen von dieser eigentlich irren Annahme aus, dass sie über Magie und Rituale bzw. Wissenschaft und Technologie ihr natürliches Umfeld unter Kontrolle bringen können. Wie in der Bibel wird die jeweilige Schöpfungsgeschichte oft dahingehend umgeschrieben, dass sie genau zu den kulturellen Verhältnissen passt. Gott schuf die Welt in sechs Tagen und ruhte am siebten. Er schuf die Himmelskörper, um die wichtigsten Festtage im Kalenderjahr zu markieren. Er schuf den Menschen als sein Ebenbild mit einem klaren Auftrag im Leben. Damit wurden kulturelle Errungenschaften zu natürlichen Phänomenen.
Wie das Fliegen ist auch die totale Machbarkeit ein Urtraum der Menschheit. Diktaturen müssen auch ganz fest daran glauben, dass sie mit menschlichen Mitteln alle Eventualitäten des Lebens kontrollieren können, notfalls auf die übelste Weise. Deswegen muss man dem Unvorhergesehenen stets die nötige Ehrfurcht entgegenbringen.

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Mittwoch, 29. November 2006

Der Fluch der Unterbrechung

Liebe Bürohengste!

Treffen sich zwei Beamte am Gang vor ihren Büros. Sagt der eine: "Kannst du auch nicht schlafen?"
Das waren eben noch die guten alten Zeiten des sozialistischen Büroalltags in den Beamtenburgen diverser Staatsbetriebe. Da ging man nicht zur Arbeit, um Leistung zu bringen, sondern um soziale Kontakte zu pflegen. Den Vormittag brachte man mit ein wenig Bürokratie und viel Kaffee rum, um nach einer ausgedehnten und wohlverdienten Mittagspause sich dem Kartenspielen zuzuwenden. Als technologiefreie Zone war das Büro ein Hort der Geruhsamkeit und Beschaulichkeit, eine Oase des Friedens im hektischen Arbeitsalltag der anderen. Doch die Zeiten ändern sich. In "Der Fluch der Unterbrechung" (DIE ZEIT, Nr. 46, 9. November 2006, S. 73-4) schrieb Jürgen von Rutenberg vor kurzem:

"Nie gab es so viele Unterbrechungen wie heute, eine logische Folge der Vernetzung durch Internet und Mobilfunk. Seit alle allen jederzeit etwas mitteilen können, tun sie es auch. Unterdessen verschwinden die letzten Bastionen der Unerreichbarkeit. Die Funknetze weisen immer weniger weiße Flecken auf, die ersten Fluglinien wollen den Handybetrieb demnächst auch im Himmel zulassen."

Gloria Mark von der University of California untersuchte 2004 mit ihren Studenten eine kalifornische Hi-Tech-Firma, um herauszufinden, wie lange ein Angestellter an einer Sache durchgehend arbeiten konnte:

"Elf Minuten. So lange kann sich den einschlägigen Studien zufolge der durchschnittliche Büroarbeiter mit einem Thema beschäftigen, bevor er unterbrochen wird. Elf Minuten, das mag erst mal gar nicht so dramatisch klingen. Doch je näher man hinsieht, desto verrückter erscheint unsere ganz normale Arbeitswelt.
[...]
Nach jeder Unterbrechung, so fand sie heraus, wendet sich der Büroarbeiter im Durchschnitt mindestens zwei anderen Aufgaben zu, bevor er zur ursprünglichen Tätigkeit zurückkehrt – etwa 25 Minuten später. Nach so vielen Ablenkungen dauert es natürlich, bis er sich wieder in die alte Aufgabe hineingedacht hat. Der Schreibtisch ist mittlerweile von neuen Papierschichten überlagert, die Fenster auf dem Monitor müssen neu zurechtgezogen werden. Und was war das noch mal für ein Geistesblitz vorhin, kurz bevor es an der Tür klopfte? Er ist wahrscheinlich dahin. Das so genannte Arbeitsgedächtnis des Menschen kann zwar, wie der Arbeitsspeicher eines Computers, Informationen sehr schnell prozessieren, speichert sie aber nicht dauerhaft. So kann jede Unterbrechung das kunstvoll errichtete Gedankengebäude zum Einsturz bringen.
Bis der moderne Held der Arbeit wieder die Konzentration erreicht hat, die er vor der Unterbrechung hatte, vergehen rund acht Minuten. Bleiben noch drei Minuten effektive Arbeitszeit bis zur nächsten Unterbrechung.
[...]
Innerhalb der 11-Minuten-Phasen zerstückelt sich die Aufmerksamkeit noch mal in Abschnitte von durchschnittlich drei Minuten – so oft wechselt der Held der Arbeit die Art der Tätigkeit, beispielsweise vom Lesen eines Papiers zum Verfassen einer E-Mail.
[...]
Der durchschnittliche Büroarbeiter unterbricht sich selbst genau so oft, wie er von außen unterbrochen wird.
[...]
Die Arbeit kommt ihm immer anstrengender vor, sein Einsatz immer größer, während er immer schneller auf der Stelle tritt."

Diese stete Ruhelosigkeit, gekoppelt mit dem dumpfen Gefühl, dass man trotz vollen Einsatzes eigentlich nichts weiterbringt, ist mittlerweile ein Dauerzustand. Die ständigen Unterbrechungen führen auch dazu, dass man in Zeiten der Stille diese gar nicht mehr erträgt:

"Das zersplitterte Bewusstsein der Unterbrochenen ist inzwischen die herrschende Geisteshaltung unserer Zivilisation."

Sitzt man einmal zehn Minuten entspannt im Lesesessel, muss man schon wieder aufspringen und sich künstlich ablenken. Viele amerikanische Fernsehserien, wie die SIMPSONS, laufen nur mehr 20 Minuten lang. Ich ertappe mich zunehmend dabei, dass ich bei Sendungen, die eine halbe Stunde oder mehr dauern, manchmal leicht unruhig werde: Wie lange geht denn das noch? Die härteste Probe ist aber der Umgang mit Kindern, die prinzipiell kein Zeitgefühl haben.
Als ich vor ein paar Jahren mit meiner Nichte spazieren war, blieb sie plötzlich auf einer Brücke stehen und starrte in den Bach. Nach endlosen fünf Minuten fragte ich einmal vorsichtig, ob sie nicht weitergehen wollte. "Nein. Es ist so schön hier." Also stellte ich mich neben sie und sah ebenfalls dem Dahinplätschern des Wassers zu. Jetzt wird sich jeder eine buddhistische Lehre aus diesem Erlebnis erwarten, aber die könnt ihr euch ja selbst zusammenreimen. Während ich mich sonst als sehr geduldig einschätzen würde, setzte mir diese unerträgliche Ruhe gewaltig zu. Ich bin eben auch ein Kind meiner Zeit.

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Freitag, 20. Oktober 2006

The Summer Next Time

Liebe Herbstzeitlose!

Tja, im Herbst ist man schnell seine Zeit los. Kaum ist die Uni angelaufen, kommt man sich schon wieder wie der Hamster im Laufrad vor. Die ganze Woche ist mit Terminen zugepflastert und das wohlverdiente Wochenende ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Aus Studentenperspektive haben die Uni-Angestellten hingegen das Paradies auf Erden, denn "on paper, the academic life looks great."
Damit beschäftigte sich Tom Lutz kürzlich in einem sehr interessanten Artikel ("The Summer Next Time") in THE NEW YORK TIMES (4. September 2006). Zählt man nämlich die freien Tage, Wochen und Monate zusammen, dann steigen wir Unibediensteten noch viel besser aus als die freizeitverwöhnten Lehrer. Kennt man aber den Wissenschafts- und Lehrbetrieb von innen, dann stellt sich diese Annahme sehr schnell als Trugschluss heraus. "The Summer Next Time" ist nämlich eine ironische Anspielung auf die Standardantwort aller Unimitarbeiter, wann sie denn wieder einmal Zeit für irgendetwas hätten - und damit ist auch meistens Arbeit und nicht Freizeit gemeint. Dazu kommt noch, dass man bis auf die Toppositionen im Vergleich zur Privatwirtschaft schlecht verdient und jeder halbwegs begabte Handwerker mehr Geld scheffelt. Die Arbeit besteht darüber hinaus noch aus sehr viel Verwaltungskram und anderen Routinearbeiten. Was also ist dann so toll an unserem Job, dass viele mit an Bord wollen? Darauf hat Tom Lutz folgende Antwort:

"... we academics do have something few others possess in this postindustrial world: control over our own time. All the surveys point to this as the most common factor in job satisfaction. The jobs in which decisions are made and the pace set by machines provide the least satisfaction, while those, like mine, that foster at least the illusion of control provide the most. Left to our own devices, we seldom organize our time with 8-to-5 discipline."

Da hat der gute Mann völlig recht. Abgesehen davon, dass ich zu gewissen Zeiten bestimmte Dinge fertig haben muss, gibt es keine Verpflichtungen. Ob ich mich im Büro von 9 bis 12 oder am Samstag Abend von 20 bis 23 Uhr hinsetze, ist völlig egal. Ich arbeite unentgeltlich um 50 % mehr als im Vertrag steht, was unter anderen Umständen sofort ein Kündigungsgrund wäre. Da ich mir aber aussuchen kann, wann, wo und wie ich arbeite, hebt dieser Bonus alle anderen Bedenken auf. Wenn ich eine kreative Phase habe, arbeite ich zwei Tage durch und wenn es mich ein anderes Mal gar nicht freut, ist es auch egal. Ich muss nur über einen längeren Zeitraum verteilt gewisse Aufgaben lösen.

Tom Lutz schreibt, dass in der vorindustriellen Welt diese Arbeitsweise Standard war: "The pre-industrial world of agricultural and artisan labor was structured by what the historian E.P. Thompson calls 'alternative bouts of intense labor and of idleness wherever men were in control of their working lives.' Agricultural work was seasonal, interrupted by rain, forced into hyperactivity by the threat of rain, and determined by other uncontrollable natural processes." Dazwischen konnte man sich aber ausrasten.

Ich möchte also behaupten, dass ich insgesamt wesentlich mehr arbeite, als man gemeinhin annehmen könnte, aber all dies geschieht viel relaxter als bei Personen, die tatsächlich "nur" halbtags arbeiten, aber in dieser Zeit unter permanentem Druck stehen. Wenn man mich also irgendwo völlig entspannt herumsitzen, Tee trinken und plaudern sieht, dann sollte man nicht vergessen, dass das sehr viel Arbeit an anderen Tagen und zu anderen Zeiten bedeutet. Aber das bestimme ich eben selbst.

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Donnerstag, 30. März 2006

Krank

Liebe Gesunde!

Viele halten mich prinzipiell für krank (was ich durchaus als Kompliment auffasse) und einige schon für tot, weil ich jetzt wochenlang von der Bildfläche verschwunden bin.
Nun hat mir tatsächlich vor einigen Wochen ein Grippevirus den Boden unter den Füßen weggezogen und mich für vier Tage (24.-27.2.) in die eigenen vier Wände verbannt. Dies passiert so ungefähr alle vier Jahre einmal und ist somit etwas Besonderes für mich. Ich lag also ein ganzes verlängertes Wochenende lang halbtot auf dem Sofa und nützte die verbleibende Restenergie um zwischendurch die dritte Staffel von SIX FEET UNDER zu sehen.
Krankheit wird ja allgemeinhin als negative Erfahrung und verlorene Zeit eingestuft, aber dem möchte ich hier ausdrücklich widersprechen. Zuerst einmal wird man ziemlich abrupt aus seinem Leben herausgerissen. Gerade lief man noch als kleines Zahnrädchen im großen Getriebe des eigenen Lebens und plötzlich liegt man als kaputter Maschinenteil daneben und kann sich dieses komplexe technische Konstrukt, das nach langen Jahren wieder einmal völlig zum Stillstand gekommen ist, in Ruhe ansehen. Dabei hilft es sehr, dass man schwach und völlig hilflos ist, weil man ja sonst niemals aufgeben würde und sich lieber ein paar Pillen in die Birne knallt, um weiter funktionieren zu können. The show must go on, aber manchmal muss man auch vier Vorstellungen absagen, um danach wieder weiterspielen zu können.
Die Welt der Krankheit ist vor allem eine zeitlose. Während sonst das Leben minutenweise verplant ist und einem die Zeit wie Sand zwischen den Fingern davonläuft, hat man jetzt plötzlich mehr als genug davon. Man verliert nicht Zeit, sondern gewinnt sie. Endlich kann man einmal nichts tun, was ja sehr viele Menschen als großen Wunsch äußern - einfach einmal abschalten und den Alltag vergessen. Die Grippe hat ein offenes Ohr für solche Anliegen und hilft gerne.
Ein weiterer Vorteil ist die radikale Isolierung. Die meisten von uns machen sich ja Sorgen, ob sie genug Zeit mit wem auch immer verbringen, während sie sich in Wirklichkeit fragen sollten, ob sie genug Zeit mit sich verbringen. Es ist nämlich wesentlich problematischer, wenn man den Kontakt zu sich selbst verliert, als zu irgendjemand anderem, ganz egal wie wichtig und nahe diese Person einem ist. Da die innere Stimme nicht mehr direkt gehört (oder bewußt ignoriert) wird, muss sie in unserer Zeit oft den kommunikativen Umweg über psychosomatische Leiden wählen. Mein Husten verrät mir auch im Moment, dass ich die innere Stimme ziemlich drastisch abwürge, aber oft hat man auch keine andere Wahl.
Abschließend möchte ich sagen, dass man Krankheit nicht als Katastrophe, sondern als Chance sehen sollte. Man kann den Betrieb für kurze Zeit ein wenig von außen betrachten und ein bisschen mehr auf seine innere Stimme hören.

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Freitag, 30. September 2005

Die Instant-Gesellschaft

Liebe Gehetzte!

"Das ist das Lebensgefühl einer 'Instant-Gesellschaft' [...]: Alle Probleme müssen auf der Stelle lösbar sein, wie Nescafe oder Suppenkonzentrat in heißem Wasser." So schrieb Jan Ross am 16. August 2001 in DIE ZEIT. Ich habe mir den Satz extra notiert, weil er erstens genial und zweitens selbst ein Konzentrat ist, das eine Vielzahl von Beobachtungen zusammenfasst, auf die ich jetzt gerne näher eingehen möchte.

Bleiben wir beim Thema Ernährung. Das eingedeutsche Wort "Instant" kommt eigentlich nur in Zusammensetzungen vor und da fast aussschließlich in Verbindung mit Kaffee. Das Prinzip ist sehr einfach: kein langes Warten - sofort konsumieren. Überlegt man es sich recht, dann müsste es in unserer Sprache vor "Instants" nur so wimmeln: Fast Food ist nichts anderes als Instantessen, Maggi, Knorr und Inzersdorfer bieten Instantsuppen an, Instanttomatensauce kennen wir als Sugo, Iglo vertreibt Instantgemüse, der Würstelmann hat Instantfleisch, Pommes Frites und Chips sind Instantkartoffeln, Instantfisch kommt aus der Dose und Instantsalat aus dem Glas. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Im Prinzip ist Instant ein einfacher Deal: Man nimmt qualitative und gesundheitliche Einbußen in Kauf, um einen zeitlichen Gewinn daraus zu ziehen. Jedenfalls haben das alle 5000 Befragten zu Protokoll gegeben. In Wirklichkeit scheint es mir aber um die sofortige Befriedigung eines Befürnisses zu gehen: Natürlich könnten wir uns die Zeit nehmen und etwas Nettes kochen (ohne mit anderen Dingen in Verzug zu kommen), aber der Hunger ist jetzt da und wir wollen nicht eine halbe Stunde warten. Es handelt sich also um die wachsende Unwilligkeit des Westeuropäers für die wichtigen Dinge im Leben ausreichend Energie, Zeit und Geld zu investieren. Vom Essen bis zur Partnerschaft hat das Instant-Lebensgefühl alle Bereiche unseres Daseins erobert.

Thema Bildung: Vom Instant-Sprachkurs (Lerne Spanisch in 10 Tagen) bis zum Instant-Studium wird Bildung immer mehr zu einem Modulsystem, dessen Einzelkomponenten man sich als .exe Dateien vorstellen kann, die man anklickt und die sich dann mehr oder weniger von selbst installieren. Wenn sich Neo in MATRIX Ju Jitsu in 10 Sekunden aneignet oder Trinity im Nu einen Helikopter zu fliegen lernt, dann finden wir das nicht lächerlich, sondern fasznierend. Schließlich handelt es sich ja auch um die Erfüllung unseres sehnlichsten Wunsches: die Befriedigung von Bedürfnissen oder Wünschen ohne Anstrengung. Der gesamte Bildungssektor wirbt auf völlig schizophrene Weise für die erfolgreiche Kombination aus Qualität und Tempo, die uns unter dem Zauberwort "Effizienz" verkauft wird. Entscheidend hierbei ist vor allem die Entwicklung weg von einem Bildungskonzept, das einen ganzheitlichen Anspruch hat, hin zu einem auf Fertigkeiten basierenden Bausteindenken, bei dem das Ganze weniger als die Summe seiner Teile ist.

Im zwischenmenschlichen Bereich ist das Instant-Denken wahrscheinlich am schlimmsten. Hier wird die Kombination aus Qualität und Tempo als "quality time" verkauft. Die gestressten Eltern können die tägliche Aufmerksamkeit für ihre Kinder stark reduzieren, wenn sie nur die 10 Minuten sinnvoll gestalten. As if.
Der Beginn einer Beziehung gehorcht mittlerweile ebenfalls den Regeln des Instants. Sofortiges Handeln ist erwünscht - Reden kann man immer noch später. Ich muss hier meinen Lieblingsautor Botho Strauß wieder zitieren, der in diesem Zusammenhang von Sex als der "Fortsetzung einer leichten Sympathie mit anderen Mitteln" oder einer "Willkommensgeste" spricht. "Und wieviel Wahnsinnstaten, wieviel Briefwechsel, wieviel Kosenamen und wieviel Gesetz sind einmal aufgewendet worden, um dieser Willkommensgeste biografische Bedeutung zu verleihen! Leidenschaft, Briefwechsel eventuell, Wahnsinnstaten gehören heute dem Ende allein, der Krise, der Trennung, dem Gehen." Wer den Wahnsinn am Beginn einer tragischen Liebe nachlesen möchte, dem sei Rudolf Borchardts "Vivian" wärmstens empfohlen. Diese Briefe sind 100 Jahre alt, aber noch immer sehr eindringlich in ihrer Konsequenz und Realitätsferne.

Und die Moral von der Geschicht'? Der Weg ist das Ziel. Wir hingegen wollen den Lottogewinn: wenig einsetzen und alles gewinnen, die großzügige finanzielle Belohnung für nie erbrachte Leistungen. Ich würde mir nur ein bisschen mehr Vertrauen erhoffen, dass längerfristige Investments und Entwicklungen nicht automatisch schlecht enden müssen. Manchmal ist der steinige Weg der einzig richtige zum Ziel.

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Donnerstag, 1. September 2005

A la recherche de temps perdu

Liebe Zeitreisende!

In diesem Eintrag muss ich den Bogen von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913-27) über Michael Endes Momo (1973) bis hin zum verlorenen Jahr (aka Sitzenbleiben) spannen, um mich der Frage nach dem Wesen der Zeit zu nähern.



Die verlorene Zeit ist bei Proust die eigene Vergangenheit (hier die Zeit vor dem 1. Weltkrieg), insbesondere die Kindheit, mit ihren liebgewonnenen Kontinuitäten und Eigenheiten. Obwohl man noch immer am selben Ort lebt (hier Paris), führt der gesellschaftliche und technische Fortschritt aber zu einer immer rasanteren und radikaleren Veränderung der Lebensumstände. Der Mensch scheint in seiner linearen Existenz gefangen zu sein. Proust setzt dieser betrüblichen Gefangenschaft in der Zeit die Kraft der Erinnerung entgegen. Ich zitiere aus der Beschreibung des Romans in Kindlers neuem Literaturlexikon: "Wenn das Vergangene die Fähigkeit hat, im Gedächtnis wiederaufzuleben - und zwar in freier Abfolge und in vielschichtigen Überlagerungen -, so entzieht es sich unserem geläufigen, mathematisch fixierten Zeitbegriff. Die spontan rückerinnerte Vergangenheit strömt in die Gegenwart herein; fast immer ist es ein unwillkürlicher Gedächtnisakt - mémoire involuntaire -, der das erinnerte, frühere Ich zurückbringt. Nicht die äußere, chronometrisch meßbare Zeit hat Bedeutung, ausschlaggebend ist allein die seelische Wirklichkeit, die innere Zeit, die dureé réelle." Der Mensch hat also die Fähigkeit, in seinem Leben zum Zeitreisenden zu werden und sein eigenes früheres Ich zu besuchen, oder, in ganz seltenen Fällen, wieder eins mit ihm zu werden. Der sich erinnerende Mensch gewinnt also, wenn auch nur für Augenblicke, die verlorene Zeit zurück.
Im Pilotfilm der Serie Deep Space Nine, "Der Abgesandte", geht es übrigens um eine interessante Variation dieses Themas. Hier ist Ben Sisko Gefangener eines einzigen Moments seiner Vergangenheit, nämlich den Verlust seiner Frau, den er immer und immer wieder erlebt. Während Proust diese Fähigkeit zur Verschmelzung mit einem früheren Ich als höchstes Gut und lang ersehnte Flucht aus dem Hier und Jetzt begreift, wird sie bei Sisko zum Fluch. Erst der Wiedereintritt in die lineare Zeit bedeutet Erlösung.



In Michael Endes Momo wird die Begrenztheit der menschlichen Existenz auf eine gänzlich andere Weise überwunden. Statt der nostalgischen Erinnerung wirkt hier die Fantasie als befreiende Kraft, die den Menschen aus dem räumlichen und zeitlichen Korsett schlüpfen lässt und Erfahrungsräume jenseits des grauen Alltags eröffnet. Momo, die einfach so in den Tag hineinlebt und ihre Energie und Lebensfreude aus Geschichten und Spielen gewinnt, ist sozusagen die Verkörperung dieser Macht. Ihre Widersacher sind die grauen Herren der Zeitsparkasse, die plötzlich in der Stadt auftauchen und den ahnungslosen Bürgern vorrechnen, wie viel Zeit sie eigentlich mit nutzlosen Dingen verschwenden. Die Degradierung der Zeit zu einer Ware, bzw. zu einem Zahlungsmittel, wird hier zum großen Übel der modernen Gesellschaft. Während die armen Menschen immer gehetzter werden, konsumieren die grauen Herren die gesparte Zeit ihrer Opfer in Form von Zigarren, die sie aus den Blättern der konservierten Zeitblumen herstellen. Michael Endes Buch ist ein einziges Plädoyer für den verschwenderischen Umgang mit Zeit - vorausgesetzt es handelt sich um soziale Kontakte und die Welt der Fantasie.

In unserer Gesellschaft wird auch viel von verlorener und verschwendeter Zeit geredet. Wer in der Schule sitzen bleibt oder an der Uni ein paar Semester länger braucht, verliert oft schon mal ein ganzes Jahr. Dabei sollte doch jeder wissen: Zeit ist Geld und Geld ist bekanntlich heilig. Also gilt die Zeit, gleich nach dem Geld, als höchstes Gut und damit hat man gefälligst sorgsam umzugehen. Zeit ist Geld bedeutet ja auch, dass man Zeit sparen und investieren kann. Wie in der Finanzwelt geht unsere Instantgesellschaft zunehmend von längerfristigen Anlageformen weg und konzentriert sich auf die Spekulation mit Risikokapital. Wie beim Roulette oder Lotto träumt man davon, mit möglichst wenig Einsatz möglichst viel Gewinn zu erzielen. Das gilt beim Lernen ebenso, wie im Umgang mit anderen Menschen.
Im Job spart man Zeit, indem man ein Höchstmaß an Selbstorganisation und Professionalität an den Tag legt (Effizienz), im Privatleben, indem man die paar wenigen Augenblicke zusammen besonders intensiv erlebt (Quality Time). Was machen wir aber eigentlich mit dieser ganzen gesparten Zeit, die durch technische Neuerungen immer noch mehr wird? Wir konsumieren sie beim Internetsurfen, beim Zappen, beim Herumlungern, beim Trödeln, beim Einkaufen, beim Unentschlossen sein, beim Jammern, beim Versinken in Selbstmitleid, und beim Ertragen des Weltschmerzes. Dafür wenden wir jede Woche viele, viele Stunden auf. Deshalb bleibt uns auch so wenig Zeit für die Dinge, die wir eigentlich so gerne machen würden. Es ist aber nicht der Stress, der uns daran hindert, sondern die Sinnlosigkeit der oben aufgezählten Dinge, die schlapp und teilnahmslos macht. Wir brauchen keine grauen Herren, die uns die Zeit wegrauchen: das machen wir schon ganz gut alleine.

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Dienstag, 17. Mai 2005

Stress pur

Liebe Hektikers!

Lasst mich mal mit einer Definition beginnen: Stress ist die als externer Lebensumstand deklarierte und zelebrierte Unfähigkeit, die eigene Zeiteinteilung in den Griff zu bekommen. Ist man mal ehrlich zu sich selbst und glaubt vorrübergehend einmal nicht an die große Lüge unserer Zeit, dass jeder ununterbrochen unter Druck steht und nicht mehr weiß, wie er alles unter einen Hut bringen soll, dann stellt man relativ schnell fest, dass man noch immer sehr, sehr viel Freizeit hat. Diese wird dann im großen Stressmythos als Ausnahme von der Regel beschrieben: Am Wochenende konnte ich nicht aus, denn da war eine Familienfeier. Am Montag gehe ich laufen, denn ein bisschen Ausgleich braucht der Mensch. Am Dienstag habe ich ausnahmsweise ferngesehen. Das habe ich einfach gebraucht. Am Mittwoch hat ein Bekannter angerufen und da konnte ich dann auch nicht nein sagen. Am Donnerstag war das Wetter so schön, da musste ich mich fast raussetzen. Am Freitag, nach einer ganzen Woche Arbeit, habe ich mir einen Drink mehr als verdient.
Und trotzdem beteuern wir bei jeder Gelegenheit, dass wir keine freie Minute haben, weil die nächste Prüfung oder der nächste Abgabetermin unaufhaltsam näherrückt. Deshalb gibt es auch einen fundamentalen Unterschied zwischen Zeit haben und sich Zeit nehmen: Zeit hat praktisch nie jemand, aber Zeit nehmen könnten wir uns trotzdem.

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