Donnerstag, 28. April 2011

Alles Wissen für alle umsonst jetzt sofort auf Knopfdruck

Liebe Utopisten,

in den alten STAR TREK Serien war es noch eine Utopie: man sagte einfach laut "Computer", stellte eine Frage, und schon bekam man alle Antworten frei auf das eigene PADD (personal access display device) gezaubert. Mit Wikipedia und einem iPad sind wir diesem Zukunftsszenario schon sehr nahe gerückt und es wird nicht mehr lange dauern bis wir mit unseren kleinen Helfern auch sprechen können.
Für Gene Roddenberry (STAR TREK) und Jimmy Wales (WIKIPEDIA) wird damit ein Traum wahr, nämlich dass jedem jede Information sofort und kostenlos zur Verfügung steht. Als Humanist und Bildungsutopist müssen da einem die Augen leuchten bzw. glänzen vor zurückgehaltenen Tränen, denn was will man mehr? Hosanna, ich sage euch, eine neue Zeit ist angebrochen: endlich gibt es Aufklärung für alle und nicht mehr nur für ein paar immer weniger werdende Bildungsbürger vom alten Schlag, die noch unabhängig von den Massenmedien selbständig denken können.

Doch leider hat die Sache einen gewaltigen Haken, oder, um genauer zu sein, drei gewaltige Haken:

1) Es gibt kein freies und objektives Wissen.
2) Diejenigen, die die Maschinen mit 'Informationen' füttern, stellen durch ihre Auswahl und ihre Formulierungen ständig die Informationen her, die sie eigentlich nur vermitteln wollen.
3) Deshalb ist eine kritische Hinterfragung von Inhalten noch viel wichtiger als jemals zuvor (gerade weil so viel Wissen kostenlos von irgendwelchen dubiosen Individuen ins Internet gestellt wird), wodurch höhere Bildung unumgänglich wird, um sich überhaupt in einer komplett medialisierten Umwelt zurechtzufinden.

Zuerst zu Punkt 1: Es gibt kein freies und objektives Wissen.
Ich möchte dafür ein einfaches Beispiel wählen: "1492 entdeckte Kolumbus Amerika." Was auf den ersten Blick als unumstößliche Tatsache erscheint, ist in Wirklichkeit sehr problematisch. Erstens stimmt es nicht, dass Kolumbus der erste Europäer auf dem amerikanischen Kontinent war. Zweitens spiegelt es eine Haltung wider, die Europa als Mittelpunkt der Menschheitsgeschichte definiert. Amerika wurde aus unserer Sicht 'entdeckt', nicht aber aus Sicht der Indianer, die schon seit Jahrhunderten bzw. Jahrtausenden den Kontinent bewohnt hatten. Drittens ist 'entdeckt' eine problematische, da verniedlichende Wortwahl, weil sie Abenteuerlust und Unternehmergeist suggeriert. De facto haben mit Kolumbus zwei der größten Verbrechen der Europäer ihren Anfang genommen: der Genozid an der Urbevölkerung Amerikas und, zeitlich etwas versetzt, der Sklavenhandel. Unsere Vorfahren haben es fast geschafft einen ganzen Kontinent mit seinen verschiedenen Kulturen auszurotten und dann noch die Bewohner eines anderen Kontinents im großen Stil zu versklaven, um sich die Reichtümer der Neuen Welt anzueignen. Für viele nicht-europäische Amerikaner ist Kolumbus der Anfang vom Ende.
Und genau so verhält es sich mit allem Wissen. Wenn es nicht schlichtweg falsch ist, so ist es zumindest nur unter gewissen Vorbedingungen wahr, so wie die Heisenbergsche Unschärferelation für den Welle-Teilchen-Dualismus zeigt. Und selbst wenn es wahr sein sollte, dass Kolumbus 1492 Amerika entdeckte, warum ist diese Information so wichtig, dass es fast jeder weiß. Wer reiht diese Wissensbissen nach Prioritäten und nach welchen Prinzipien? Das führt uns zum nächsten Punkt.

2) Wissen wird nicht vermittelt, sondern kontinuierlich erzeugt.
Jeder, der an einer Schule unterrichtet, weiß, dass er gar nicht 'den Stoff' vermitteln kann, sondern nur eine kleine Auswahl seiner eigenen Version der Realität. Selbst wenn es eine Wahrheit gebe, würden die vielen Filter, die zwischen Wahrheit und Unterrichtsstunde stehen, für einen Stille-Post-Effekt sorgen. Die Wahrheit wird so lange von Widersprüchen bereinigt und auf simple Dualismen runtergebrochen, bis nur mehr ein Schatten der 'Wirklichkeit' übrigbleibt. Wissen wird nicht vermittelt, sondern ständig neu erzeugt.

3) Sekundärer Analphabetismus
Dieser Masse an dubiosem Wissen steht eine immer größere Schar von sekundären Analphabeten gegenüber, die zwar lesen, aber nicht verstehen können. Laut PISA-Studie sind wir Österreicher Vorreiter in diesem Bereich. Das liegt vor allem daran, dass das Anforderungsprofil für eine ausreichende Lesefähigkeit sich rasant verändert. International denkt man bereits über einen stark erweiterten Lesefähigkeitsbegriff nach, da man bald mit sinnerfassendem Lesen alleine kein Auslangen mehr finden wird. Visuelles bzw. multi-modales Lesen wird zum herkömmlichen textuellen Lesen hinzukommen müssen. Das erfordert nicht nur eine andere Form des Wahrnehmens, sondern auch eine erweiterte kritische Auseinandersetzung mit der frage, wie diese Medientexte zusammengebaut sind und wie bzw. von wem sie vermittelt werden.

Das alles führt zu der paradoxen Situation, dass das Wissen immer mehr wird, die Menschen aber immer unfähiger werden auf sinnvolle Weise damit umzugehen.