Dienstag, 24. Mai 2005

Konserven

Liebe Selbstversorger!

Will man Lebensmittel länger haltbar machen, muss man sie einem technischen Verfahren unterziehen, das die Geschmacksstoffe erhält. Will man Momente eines menschlichen Lebens bewahren, muss man sie einem künstlerischen Verfahren unterziehen, das die emotionale Glaubwürdigkeit der Situation erhält. Kunstwerke sind somit nichts anderes als Konserven. Positiv gesehen erweitert Kunst unser Wahrnehmungs- und Empfindungsspektrum, indem wir an Lebenssituationen und Emotionen teilhaben dürfen, die wir im richtigen Leben niemals erfahren würden. Negativ gesehen kommen diese Erfahrungen aber aus der Konserve, sind also künstlich aufbereitet und somit nicht echt.
Wir sind jedoch nicht nur Konsumenten, sondern auch Produzenten von Künstlichem: Tagebucheintragungen, Blogs, Fotoalben, (Amateur)filme, G'schichtln, Gerüchte, Briefe, E-Mails, Lieder etc. Ständig bereiten wir Erlebnisse für kommunikative Zwecke und auch die Erinnerung auf, indem wir sie den Konventionen verschiedener Genres entsprechend verformen. Oft kommt uns die Kunst realer vor als tatsächlich Erlebtes. Wir verbringen jeden Tag Stunden damit, Konserven aufzuspüren, zu konsumieren und zu produzieren.
Wieviele Ereignisse eines Tages sind echt und nicht in irgendeiner Form second-hand? Selbst im direkten Kontakt mit Personen dreht sich oft alles um Konserven: frühere gemeinsame Erlebnisse, Berichte von eigenen Erfahrungen und Reaktionen, Meinungen zu allen möglichen Dingen etc. Alles wird durch den Kommunikationsvorgang bereits aufbereitet. Was bleibt nach dieser Logik noch über? Unmittelbar erlebte Sinneseindrücke und Emotionen, die in ihrer Direktheit keiner Vermittlung bedürfen. Oft werden wir ihrer gar nicht mehr gewahr, unterdrücken sie oder überdecken sie mit stärkeren Eindrücken aus der Konserve. Oft geht uns jeder Sinn für Echtheit verloren und wir leben nur mehr in der Matrix, der täuschend echten Illusion. Und dann gibt es doch diese seltenen Momente, die wir um jeden Preis festhalten wollen: die Gegenwart einer bestimmten Person, ein Naturerlebnis, ein flüchtiger Augenblick voll Perfektion. Zum Glück sind wir meist mit dem Sekundären, mit der Konserve, zufrieden. Ein bisschen liegt es aber auch an uns, das Unmittelbare zuzulassen.

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6 Comments:

At 25. Mai 2005 um 00:47, Anonymous Anonym said...

Meine Konserventheorie hat mich gerade zu einem neuen Blog inspiriert. Check it out at
www.tastytins.blogspot.com

 
At 25. Mai 2005 um 11:49, Blogger Dr.Wily said...

Aber ist es nicht so, dass wenn wir unmittelbar etwas erleben, wir erst in dem Moment draufkommen, dass es festhaltenswert ist, wenn es gerade vorbei ist? oder anders gesagt: Wenn man merkt, dass man gerade glücklich ist, ist es in dem Moment vorbei mit dem Glück?
Und das sind aber die Momente die uns so wichtig sind und wir als uns so wichtig erkennen, dass wir sie festhalten wollen, dass heißt in Konserven packen. Also ist alles was aus der Konserve kommt, irgendwann mal ein unmittelbarer eindruck und ursprünglich gewesen. Eine Menge Menschen leben und erleben also sehr bewußt und unmittelbar. und halten das dann fest. Und dann eins weiter - wenn ich dann einen song höre wo mir wer eindrücke schildert und ich erleb dann was dabei, in mir oder wo und wie auch immer, dann ist das ja unmittelbar meins. nicht dessen erlebnis, weil das is ja seins. aber es löst was aus, dass unmittelbar meins ist. ob ich dieses Gefühl jetzt bei einem Blitz oder Regenbogen oder einem sackerl, dass im wind weht hab, oder beim betrachten eines bildes oder hören eines songs....ist doch egal. ist ja ursprünglich meins, dann trotzdem.

 
At 25. Mai 2005 um 12:44, Anonymous Anonym said...

Ich finde die "Kunst als Konserve"-Theorie sehr einschränkend. Kunst hebt ja nicht nur etwas auf, das es irgendwo einmal gegeben hat. Kunst schafft etwas Neues. Neue Welten, Figuren, Situationen. Wir reagieren natürlich mitunter mit Gefühlen, weil uns diese Werke an etwas erinnern. Aber es wird nichts Tatsächliches konserviert. Und vielleicht bewahrt z.B. die Photographie einen Moment für die Ewigkeit (relativ gesehen), aber die abstrakte Malerei tut das nicht. Auch die Live-Improvisation tut das nicht. Nur als Beispiel.

 
At 25. Mai 2005 um 22:30, Anonymous Anonym said...

Faust sprach doch schon:
"Werd' ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
dann will ich gern zugrunde gehn!"
Für den einen perfekten Moment verkauft der gute Faust da seine Seele an den Teufel. Der Frust über die eigene unzulängliche Existenz ist sicher keine Erfindung der Postmoderne.
Natürlich kann man sich eines besonderen Augenblicks bewußt sein und ihn gleichzeitig genießen. Fängt man aber zum Fotografieren oder Aufschreiben (also zum Konservieren) an, dann verliert man bereits etwas von der Unmittelbarkeit des Erlebens.
Ich glaube schon, dass in der Kunstkonserve immer die Essenz solcher Augenblicke oder besonderer Einsichten steckt, die wir dann als wahr erkennen. Die Umstände mögen, wie Chris richtig sagt, völlig neu sein, aber der Kern erinnert uns eher an etwas, als dass er uns völlig überrascht.
In Bezug auf Fotografie und abstrakte Malerei muss ich widersprechen. Van Goghs "Starry Night" (1889) fängt gerade durch die Abkehr vom Realismus die Abendstimmung besser ein, als das irgendein Foto schaffen könnte.

 
At 26. Mai 2005 um 11:22, Anonymous Anonym said...

Faust redet in deinem Zitat natürlich rein theoretisch und nicht in einem Augenblick des Glücks. Er sagt: "Wenn du mir diesen Augenblick zeigen kannst, den ich ewig bewahren will, gehört meine Seele dir." Ach ja, und was den Ohrenabschneider angeht: Vielleicht fängt das Werk etwas ein, was dich an eine Abendstimmung (oder eine Anzahl von Abendstimmungen) erinnert, die du gesehen hast. Aber konserviert wird da nichts. Selbst wenn VanOhr eine Abendstimmung einfangen wollte, ist das eine ganz andere als deine, und sein Gefühl sicher auch. Andere Menschen reagieren anders auf das Werk. Wenn du in der Kunst nur auf Vertrautes (also angeblich Konserviertes) reagieren würdest, bräuchtest du nicht mehr nach neuen Werken zu suchen, die du noch nicht kennst. In deinem Beispiel also brauchst du keine weiteren Abendstimmung-Bilder mehr, weil VanAbsinth sie ja perfekt eingefangen hat. Du "suchst" aber weiter, weil jedes Werk etwas Neues erschafft, und du hoffst, etwas zu finden, das deine Welt bereichert/erweitert.

 
At 28. Mai 2005 um 19:15, Anonymous Anonym said...

Ich glaube, dass es unendlich viele und neue subjektive Erfahrungen, Momente, Einsichten etc. gibt, die man konservieren könnte. Trotzdem ist ja das Besondere der Kunst, dass sie einem daran teilhaben lässt. Sonst wäre es zu esoterisch und keiner versteht es. Ganz primitiv gesagt geht es doch immer um Verlorenes, Unerfülltes, nicht Erreichtes und jeder kann sich irgendwie damit identifizieren. Natürlich sehen verscheidene Menschen verschiedene Dinge darin, aber damit die Kommunikation überhaupt möglich ist, muss es eine gemeinsame Basis geben, eine Vergleichbarkeit von Situationen, Gedanken, Erlebnissen etc. Es steckt also schon etwas Altes in der Kunst, das dann jeweils neu verpackt wird.

 

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