Samstag, 10. Dezember 2005

Autos

Liebe Autisten!

Selbst ist der Mann bzw. die Frau - autonom, also den eigenen Gesetzen folgend, aber auch selbstgemacht, jemand der etwas aus sich selbst macht, aber auch sich selbst macht, a self-made man, wie die Amerikaner anerkennend sagen, ein Macher, ein Homo Faber des selbst, einer der Hand anlegt, der sich selbst neu gestaltet und definiert. Madonna, die Gottesmutter des Makeup und Makeover, findet und erfindet sich selbst auch unentwegt neu.
Im Endeffekt ist nur auf sich selbst Verlass. "Wenn man nicht alles selbst macht!" hört man den frustrierten Zeitgenossen oft sagen, der aus Erfahrung weiß, dass nur er selbst die Aufgabe zufriendenstellend erledigen kann, denn die Mitarbeiter sind zwar liebe Menschen, aber bei weitem nicht perfekt. Man muss auch schauen, wo man bleibt. Du musst ein Schwein sein in dieser Welt, denn geschenkt wird einem nichts. Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.
Nach dem geo- und heliozentrischen nun das egozentrische Weltbild. Alles Denken kreist nur um einen selbst. Und das zu Recht. Die eigene Größe bedarf nämlich intensiver Beschäftigung und als Schöpfer seines eigenen Kosmos ist man zwangsläufig der Anfang und das Ende von allem. In diesem geschlossenen, autarken und selbstreferenziellen System ist man das Maß aller Dinge. Man bedauert die mangelnde Empathie und Flexibilität der Zeitgenossen, die sich viel zu wenig für einen interessieren und sich nur unwillig nach einem richten. Betritt man einen Raum merkt man deutlich, dass das Gespräch unterbrochen wird, denn es wurde wieder einmal von einem geredet. Verlässt man den Raum, hört man, wie hinter einem getuschelt wird. Genau genommen bezieht sich jede Konversation auf einen selbst und oft ist es schwer herauszufinden, worin nun genau die Anspielung besteht.
Der moderne Autist findet seine symbolische Entsprechung im Prestigeobjekt Auto. Dieses Automobile oder sich (wie von) selbst bewegende Objekt geht auf die selbe griechische Wurzel zurück: autos - selbst. Der Autist oder krankhaft selbstbezogene fährt nun im Mercedes selbst im Selbst, im sich von selbst bewegenden Objekt, alleine durch die Lande. Das Auto ist wie sein Besitzer selbst: großteils Oberfläche und sehr wenig Innenleben - eine Maschine, die irgendwie von selbst läuft. Das Auto hat vor allem eines in sich: Leere. Dieses Vakuum füllt der Mensch mit sich und seinen Dingen.
Im Zeitalter des Selbst verwundert es deshalb auch nicht, wenn dieses kostbare Gut von allen gesucht wird. Denn obwohl ständig davon die Rede ist, leben die meisten auf Entzug. Ihnen ist das Selbst abhanden gekommen. Man fühlt sich wie eine leere Hülle und erhebt die Selbstfindung zum zentralen Element des eigenen Lebens. Die (Er)lösung kann nicht von außen kommen, denn das wäre ja ein christlicher Ansatz. Nein, man muss sein Leben selbst in den Griff bekommen - DIY, make-up, make-over, make it happen. Just do it! Mit Bergen von Selbsthilfebüchern ("So lerne ich mich selbst zu lieben", "Nie mehr deprimiert", "Ich schenke mir ein neues Leben" etc.) geht man gründlich an die Sache ran. Denn Oberflächenkosmetik darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Oder auch nicht.
Da kommt einem die Patchworkidentität wie gerufen. Wer sagt denn, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile sein muss? Ich picke mir einfach die Elemente aus dem globalen Angebot raus, die mir zusagen, identifiziere mich mit ihnen und bin dann meine Interessen und Hobbys.
"Wer bist du?" - "Ich spiele Gitarre, lese englische Literatur, esse gerne Eis, schaue fern, schreibe Tagebuch, etc."
Moooooment! Ich bin doch mehr als die Summe meiner Hobbys, verdammt noch mal! I'm just more than you can see, obviously. Ich bin doch, ich habe doch, meine Eltern haben sich doch scheiden lassen als ich 12 war und dann der schwere Autounfall und der Tod der Oma. Ist das nichts? Das prägt doch einen. Da wird man doch erst man selbst durch diese Erlebnisse. Erst durch das persönliche Erleben, durch meine individuelle Lebensgeschichte zeichne ich mich aus und von den anderen ab.
Ist eine Lebensgeschichte nicht vor allem eine Geschichte?
Willst du jetzt sagen, dass ich das alles erfunden habe?
Nein, nein, deine Eltern sind sicher geschieden, du hattest auch einen Autounfall und deine Oma ist tot - aber glaubst du nicht, dass es bei der Fülle an Erlebnissen und Erfahrungen möglich ist, dass du nachträglich Ereignissen eine besondere Bedeutung beimisst und logische Verknüpfungen findest, wo vielleicht keine waren? Alleine durch die Auswahl, durch die Schnittfassung deiner Lebensgeschichte auf Spielfilmlänge, geht doch zwangsläufig sehr viel verloren, das aber auch wichtig wäre.
Wenn ich nicht meine Hobbys bin und meine Lebensgeschichte, dann bin ich zumindest mein öffentliches Erscheinungsbild. Die Leute erkennen mich doch auf der Straße und wissen doch wer ich bin, wenn ich es schon selbst nicht weiß.
Das bringt uns natürlich zurück zur Oberfläche: Auto, Wohnung, Kleidung, Haarschnitt, Gestik, Mimik, Stimme, etc. First impressions. Bist das du?
Natürlich nicht. Habe ich doch schon längst gesagt: I'm just more than you can see. Vielleicht bin ich ja alles zusammen: meine geschiedenen Eltern, der Stoppelbart, meine Stimme, mein Lieblingsfilm, der Autounfall, meine Angst, dass es für manche Dinge im Leben zu spät ist, der Tod der Oma, Erdbeereis, die alte blaue Jacke, die ich so gerne anziehe, meine Tagebücher, der erste Urlaub in Italien, Michaela, meine CDs, Rotwein, meine Geschwister, die Pickel auf der Stirn, ...
Und siehst du da irgendwo einen Zusammenhang zwischen all diesen Dingen?
Ja, ich selbst halte das alles zusammen. Das bin ich. Ich selbst.

2 Comments:

At 11. Dezember 2005 um 00:11, Anonymous Anonym said...

Jörg sagt es nie zu spät
so don't mistake coincidence for fate
Bist du die Summe? Ist die dann ganz?
Wie oft beißt die Katze sich jetzt in den Schwanz?

Wer kennt die Lösung?
Wer sagts mir ins Ohr?
Wo sind die 4400?
And what are you looking for?

 
At 11. Dezember 2005 um 17:03, Anonymous Anonym said...

Ich mag Solipsismus und stimme da völlig mit mir selbst überein.

Ich denke gerade an das "Selbstalbum" von Bob Mould, das von Bob Mould im Alleingang produziert, komponiert und eingespielt wurde, nach dem Künstler selbst benannt ist und die schöne Widmung "This one is for me" aufweist.

 

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