Montag, 7. November 2005

Santa Maria

Liebe Schlagerfans!

Ich spreche wahrscheinlich für uns alle, wenn ich mich über die menschenverachtende Engstirnigkeit beklage, mit der viele Menschen über unsere geliebte Musik herziehen. Ständig wird den Künstlern der Schlagermusik unterstellt, dass die Texte banal seien und die Melodien nicht über die Komplexität von Kinderliedern hinausgingen. Dagegen muss ich mich entschieden wehren! Deshalb möchte ich heute einen der größten Triumphe der Schlagermusik auf Herz und Nieren prüfen und Wortgewalt wie philosophischen Tiefgang dieses Meisterwerks im Detail aufzeigen. Roland Kaisers "Santa Maria" hielt sich 1980 unglaubliche fünf Wochen auf Platz 1 der deutschen Hitparade und darf deshalb als Klassiker auf seinem Gebiet gelten. Aber nun zum Text:

SANTA MARIA

Santa Maria, Insel, die aus Träumen geboren,
ich hab' meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt.
Santa Maria, nachts an deinen schneeweißen Stränden
hielt ich ihre Jugend in den Händen,
Glück, für das man keinen Namen kennt.

Santa Maria, die drittgrößte und geologisch älteste Insel der Azoren, liegt 55 Meilen südlich der Hauptinsel Sao Miguel. Die Azoren wiederum liegen 1000 km nordwestlich der Kanarischen Inseln im Atlantischen Ozean. Das Archipel wurde 1427 von den Portugiesen entdeckt und gehört seitdem zu Portugal, wenn auch mittlerweile durch ein eigenes Parlament die Autonomie der Inselgruppe (1976) großteils sichergestellt ist.
Der Ich-Erzähler bezieht sich bewusst auf Fragestellungen der postmodernen Philosophie, vor allem aber auf die Unwirklichkeit ("Insel, die aus Träumen geboren") und Unbeschreiblichkeit der Realität ("Glück, für das man keinen Namen kennt"). Gefangen im eigenen Diskurs versucht das postmoderne Subjekt vergeblich Erfahrungen in adäquate verbale Artefakte zu verwandeln. Die Ausgeliefertheit den eigenen Gefühlen gegenüber ("ich hab' meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt") übt versteckte Kritik am Diktat der Rationalität.
Auf subtile Weise führt der Erzähler das Gegenüber ein: im Possessivpronomen "ihre" wird die Präsenz einer weiteren Figur vorweggenommen, die hier nur mit Jugendlichkeit in Verbindung gebracht wird. Dies eröffnet einen Reigen von Gegensätzlichkeiten, der wesentlich zum Spannungsbogen des ganzen Liedes beiträgt. Nun aber zur zweiten Strophe:

Sie war ein Kind der Sonne, schön wie ein erwachender Morgen.
Heiß war ihr stolzer Blick, und tief in ihrem Inner'n verborgen
brannte die Sehnsucht,
Santa Maria, den Schritt zu wagen, Santa Maria,
vom Mädchen bis zur Frau.

Bereits hier erreicht der Text seinen komplexen Höhepunkt. Mit "Kind" greift der Erzähler das Thema Jugend wieder auf und führt es im Kontrast Mädchen-Frau weiter. Gleichzeitig wird hier eine Entwicklung skizziert: Die junge Frau befindet sich in einer Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt. Für diese kritischen Entwicklungsschritte im Leben eines jeden Menschen hat die Sozialanthropologie den Begriff "liminale Existenz" geprägt. Natürlich ist diese Grauzone zwischen zwei sozial klar definierten Positionen mit Risiken und Unsicherheiten verbunden ("den Schritt zu wagen"). Dies drückt sich sehr schön im Konflikt zwischen äußerem Gehabe ("stolzer Blick") und innerer Befindlichkeit ("brannte die Sehnsucht") aus.
Bemerkenswert ist auch die Ambiguität, die in der zweifachen Nennung des Inselnamens "Santa Maria" zum Ausdruck kommt. Da sich die Strophe eindeutig und ausschließlich mit der jungen Frau befasst, müssen wir davon ausgehen, dass sich "Santa Maria" in diesem Fall auf das Mädchen bezieht. Dies ist von entscheidender Bedeutung. Die Einwohner der Azoren sind zu 97% katholisch und gelten als besonders religiös. Die Insel trägt also nicht zufällig den Namen der heiligen Jungfrau und Gottesmutter Maria. Durch die Übertragung der Attribute Marias (Jungfräulichkeit, Reinheit) auf das Mädchen, wird die grundlegende Spannung des Liedes um die religiöse Dimension erweitert. Die Figuren führen, wie bereits erwähnt, eine Schwellenexistenz zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Rationalität und Gefühlen, zwischen Selbstbeherrschung und wildem Ausleben. Dies führt uns zur dritten Strophe:

Santa Maria, Insel, die aus Träumen geboren,
ich hab' meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt.
Santa Maria, ihre Wildheit ließ mich erleben,
mit ihr auf bunten Flügeln entschweben
in ein fernes, unbekanntes Land.

In der bedingungslosen Auskostung junger Liebe gelingt den beiden die Flucht in eine Traumwelt abseits moralischer Engstirnigkeit. In Ermangelung eines besseren Ausdrucks möchte ich diesen Zustand der totalen Losgelöstheit mit "Flow" bezeichnen, einen Begriff, den Mihaly Csikszentmihalyi in "Flow: The Psychology of Optimal Experience" (HarperPerennial, 1991), besonders im Kapitel 5, "The Body in Flow" (S. 94-116), im Bezug auf körperliche Erfahrungen näher ausführt. Dies kommt in der ersten Zeile der vierten Strophe besonders deutlich zum Ausdruck:

Wehrlos trieb ich dahin, im Zauber ihres Lächelns gefangen.
Doch als der Tag erwacht', sah ich die Tränen auf ihren Wangen,
Morgen hieß Abschied.
Santa Maria, und meine Heimat, Santa Maria, war so unendlich weit...

Das Glück nimmt ein jähes Ende. Mit der bevorstehenden Abreise stürzt die Welt der Illusionen in sich zusammen. Die Realität holt das junge Paar ein und erzwingt nach einer Nacht physischer Nähe die unausweichliche Trennung. Hier wird die Ausgeliefertheit des Menschen an externe Umstände thematisiert, die den einzelnen in ein Korsett aus Zwängen und Pflichten schnüren.
Mit der erneuten Nennung des Namens wird das ambigue Spiel fortgesetzt. Wird hier das Mädchen angesprochen? Nennt der bereits zurückgekehrte Gast die Insel seine (seelische) Heimat?

Santa Maria, Insel, die aus Träumen geboren,
ich hab' meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt.
Santa Maria, niemals mehr hab' ich so empfunden,
wie im Rausch der nächtlichen Stunden,
die Erinn'rung, sie wird nie vergeh'n.

Hier wird die Unwiederbringlichkeit menschlicher Erfahrung auf drastische Weise vor Augen geführt. Das perfekte Glück ist flüchtig und kann nur in der Erinnerung dauerhaft bestehen.

Ich hoffe sehr, dass mit dieser Analyse die Komplexität und philosophische Verankerung moderner Schlagertexte deutlich wird. Bevor sich das nächste Mal ein Kritiker zu einem weiteren oberflächlichen Pauschalurteil hinreißen lässt, sollte er sich lieber die Mühe machen und genau hinsehen. Es lohnt sich!

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8 Comments:

At 7. November 2005 um 13:10, Anonymous Anonym said...

Kannst du das auch mit "Eisbär" von Grauzone?

 
At 7. November 2005 um 14:46, Anonymous Anonym said...

Ja, das kann ich:

Grauzone: Eisbär (1981)

Eisbär, Eisbär,
kaltes Eis, kaltes Eis,
Eisbär, Eisbär,
kaltes Eis, kaltes Eis.

Ich möchte ein Eisbär sein
im kalten Polar,
dann müßte ich nicht mehr schrei´n,
alles wär so klar.

Ich möchte ein Eisbär sein
im kalten Polar,
dann müßte ich nicht mehr schrei´n,
alles wär so klar.

Ich möchte ein Eisbär sein
im kalten Polar,
dann müßte ich nicht mehr schrei´n,
alles wär so klar.

Ich möchte ein Eisbär sein
im kalten Polar,
dann müßte ich nicht mehr schrei´n,
alles wär so klar.

Eisbären müssen nie weinen.
Eisbären müssen nie weinen.
Eisbären müssen nie weinen.
Eisbären müssen nie weinen.

Die Reduktion lässt sich mit Fug und Recht als innovativste Weiterentwicklung in der Kunst des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Was Samuel Beckett, besonders im Spätwerk, für das Drama leistete, John Cage mit 4'33" für die moderne Musik, Joan Miró für die Malerei oder Ernst Jandl mit "Sommergedicht" für die österreichische Lyrik, das leistete Grauzone mit "Eisbär" für die Neue Deutsche Welle. Aus unverständlichen Gründen wird dieser Durchbruch immer Trio mit "Da Da Da" zugeschrieben, das aber erst acht Jahre später die Hitparaden stürmte.
Nun aber zum Text:

Das Lied beschreibt mit großer Eindringlichkeit das Lebensgefühl in der Spätphase des Kalten Krieges. 1981 war das Jahr in dem Ronald Reagan als republikanischer Kandidat die Präsidentschaft vom Demokraten Jimmy Carter übernahm und anfing, seine umfangreichen Rüstungspläne in die Tat umzusetzen. Zu dieser Zeit konnte noch niemand ahnen, dass der Spuk zehn Jahre später vorbei sein würde.
Die Strenge der Form kann als gesellschaftliche Zwangsjacke gelesen werden, in der der "unbehauste Mensch", um Hermann Hesses Ausdruck aus dem Steppenwolf zu verwenden, festgeschnallt ist. Die existenzielle Bedrohung entlädt sich in einem Schrei, einem hilflosen Herausbrüllen von Angst und Verzweiflung. Dies erinnert stark an Bilder von Gottfried Helnwein, wie etwa "Das Lied II" (1980), "Blackout" (1982) oder das "Selbstbildnis 5" (1986). Diese sind nicht zufällig zur selben Zeit entstanden.
Das entscheidende Element des Textes ist aber die Konstruktion eines alternativen Erfahrungshorizonts, der sich im Bild des Eisbären manifestiert. Das Polargebiet wird als Alternative zu unserer technisierten Welt entworfen, in dem die Balance zwischen Lebewesen und Unwelt noch immer stimmt. Die Einfachheit, Kälte und Klarheit des Pols stehen der vernetzten, erhitzten, und verwirrenden Komplexität des modernen Lebens gegenüber. Im Symbol des Eisbären wird die menschliche Sehnsucht nach überschaubaren Verhältnissen und der perfekten Harmonie mit der Umwelt auf wunderbare Weise zum Ausdruck gebracht.

 
At 7. November 2005 um 19:06, Anonymous Anonym said...

Wie bist du denn genau auf "Santa Maria" gekommen??? Ha-ha-ha

 
At 7. November 2005 um 20:03, Anonymous Anonym said...

ich krieg bei dem lied eine gänsehaut, nicht nur ob des rasselnden Baritons eines Roland Kaiser (ich glaub der hats gesungen), nein auch, weil ich immer so einen hauch von pädophilie verspüre.

vielleicht sollten wir dich ab sofort yoda nennen, oder mister myagi. bei soviel weisheit ....

 
At 8. November 2005 um 12:45, Anonymous Anonym said...

Den "Eisbär" gab's schon 1980, "Da-Da-Da" nicht etwa 1989, sondern 1982. Bitte um genauere Recherche. Auch wenn ich dem Pionier-Argument nicht zustimmen kann (die NDW gab es schon seit Ende der 70er), kann ich ob deiner analytischen Fähigkeiten nur sagen: Prospekt!

 
At 9. November 2005 um 16:46, Anonymous Anonym said...

...es fährt ein zug nach nirgendwo mit mir allein als passagier....

Ein Glanzstück, einer immerdar funkelnden Perle gleich. Einer schwarzen Perle wohlgemerkt. Über die Einsamkeit eines Mannes im Speziellen und ganz Privaten, aber auch über die Zerissenheit des Mannes an sich im Globalen.

Er liebt die Eine - wieder eine Maria - doch ein einziger Moment der Schwäche (...was auch immer mit der andern war...) kostet ihm die große Liebe seines Lebens. er schwört ihr es sei vorbei und das es nichts bedeutet hat, weiß er doch schon selbst gar nicht mehr "was auch immer mit der anderen war".

Implizit werden hier natürlich die verschiedenen Kommunikationsformen der Geschlechter angesprochen, ein Thema dem sich der Kollege John Gray in seinem Buch "Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus" von einer eher wissenschaftlichen Seite nähert.

Natürlich ist dies ein Meisterstück über den ewigen intrinsischen Konflikt im Manne selbst - Heim oder Abenteuer, Herz oder Eumel.

Selten wurde Einsamkeit, Schmerz und Verlust so packend eingefangen und in Vinyl gefurcht.

"UND JETZT HOCH DAS BIER UND ALLE ZUSAAAAAAAMMEN -

"OH MARIA, ICH HAB DICH LIEB, ICH HAB DICH LIEB, BITTE GLAUBE MIR......

......jo, hacks eich doch unter burschen und weng schunkln geht olleweu....

...WAS AUCH IMMER MIT DER ANDEREN WAR, ES IST VORBEI..........

 
At 9. November 2005 um 23:02, Anonymous Anonym said...

Da habe ich wieder einmal alle troyen Leser zu einer Stellungnahme inspirieren können. Nicht schlecht! Vielleicht sollte ich mir alle Posts mit dem größten Feedback ansehen und mehr in dieser Richtung schreiben. Mal sehen ... Radfahrer verarschen und dann alles abstreiten war ein echter Triumph. Da wurde es fast zweistellig.

 
At 10. November 2005 um 11:27, Anonymous Anonym said...

Lieber über Bill Paxton schreiben, da hatte ich mit 13 Antworten bislang den schönsten Erfolg.

 

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