Sonntag, 23. Oktober 2005

A History Of Violence

Liebe Pazifisten!

Mit A HISTORY OF VIOLENCE ist Cronenberg ein ganz außergewöhnlicher Film gelungen, dessen Komplexität sich dem Massenpublikum wahrscheinlich gar nicht, und dem kritischen Zuseher erst sehr spät erschließt. Dies liegt vor allem daran, dass Cronenberg Hollywoodklischees aus verschiedensten Filmgenres unkommentiert zitiert, um sie im Kontext des gesamten Films als äußerst bedenkliche, unreflektierte Überzeugungen der amerikanischen Öffentlichkeit zu entlarven: der American Dream, die Kleinstadtidylle, die Bedrohung von außen, das Recht auf Waffenbesitz und die gewaltsame Verteidigung seines Grundstücks, die Rechtschaffenheit des Durchschnittsamerikaners, die Gewaltverherrlichung oder -verharmlosung durch Humor, Coolness und Ausblenden der Folgen. Der Film erinnert mich an STARSHIP TROOPERS, in dem Verhoeven den Amerikanern einen Spiegel vorhält und die faschistoiden Züge ihrer Ideologie aufzeigt. Diese Sozialkritik, die von der ersten Minute an präsent ist, versteckt er unter dem Deckmantel eines Beverly Hills 90210 SF Spektakels. Da verwundert es wenig, dass viele Zuseher sehr spät oder gar nicht begriffen, dass hier ziemlich subversiv am Fundament der amerikanischen Überzeugungen gerüttelt wird. Cronenberg geht auf ganz ähnliche Weise vor: Auf fast unerträgliche Weise inszeniert er die amerikanische Kleinstadtidylle eines "Doc Hollywood", das moralische Schwarz-Weiß-Denken eines Westerns, die Coolness eines Quentin Tarantino Streifens, den Flair eines Mafiaepos und natürlich die große Attraktivität eines Actionhelden, der sich gewaltsam für die gute Sache einsetzt. Und dann zerstört er erbarmungslos jedes dieser Klischees und veranschaulicht, dass es keinen gerechten Krieg gibt - weder im Großen noch im Kleinen. Manohla Dargis, der den Film am 23 September für die New York Times rezensierte, stellt richtigerweise fest, dass die amerikanische Geschichte immer schon A HISTORY OF VIOLENCE war und sich Gewalt wie ein roter Faden durch alle Aspekte der amerikanischen Kultur zieht - von der Politik bis zum Film. Als linksliberales Blatt ist die TIMES natürlich kritisch. In den Reaktionen anderer Kritiker läßt sich sehr schön ablesen, inwieweit der Film als Bestätigung des amerikanischen Kurses oder als dessen scharfe Kritik empfunden wird. Der Film selbst lässt viele moralische Fragen offen.
Die Kernaussage ist sicherlich, dass Gewalt nicht von außen (Terroristen, Einwanderer, herumziehende Vagabunden, Verbrecherbanden etc.) in die friedliche amerikanische Idylle hineingetragen wird, sondern immer schon ein fester Bestandteil des Gefüges war. Der Film nimmt auf die alteingesessenen Mafiabanden und deren Gewaltherrschaft Bezug, aber wenn man bis zur Kolonisierung zurückginge, läge man auch nicht falsch. Wie der Film zeigt, werden in jeder Highschool dieses großen Landes Schüler systematisch isoliert und fertiggemacht. Sozialdarwinismus ist nicht eine traurige Folge eines unfinanzierbaren Sozialsystems, sondern ein ideologischer Grundpfeiler des amerikanischen Liberalismus.
Der Ästhetisierung und Verharmlosung von Gewalt wird mit Realismus begegnet: hier wird nicht cool weggepustet, sondern grausam, kaltblütig und nüchtern hingerichtet und abgeschlachtet. In zwei besonders schmerzhaften Einstellungen darf man noch lebenden Personen ins Gesicht sehen, denen in einem Fall die Nase, im anderen der Unterkiefer zertrümmert bzw. weggeschossen wurde. Da der Film sehr bewußt Gewalt mit Humor, Sympathie, Coolness, Notwendigkeit und Sex in Verbindung bringt um diese Assoziationen sofort heftigst anzuzweifeln, ist spätestens mit dem Filmende klar, dass es keine einfachen Antworten gibt. Dass sich viele Amerikaner trotzdem von diesem Film in ihrer militaristischen Grundhaltung bestätigt fühlen, ist eigentlich der schönste Beweis für Cronenbergs oder Verhoevens berechtigte Kritik: selten ist man bereit die Prämissen seines eigenen Denkens anzuzweifeln. Also werden wieder nur linksliberale Grünwähler und Softies die Polemik des Films erkennen und der Rest mit Roger Ebert the Survival of the Fittest feiern.

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