Mittwoch, 13. September 2006

Kampuschs Konjunktive

Liebe Muttersprachler der deutschen Fremdsprache!

Am 8. September 2006 veröffentlichte Ulrich Weinzierl, ein Wiener Germanist und Österreich-Berichterstatter der WELT, folgenden präzisen Kommentar zum Fall Kampusch:

"Seelische Wunden und Narben sind nach außen nicht zu erkennen. Da sitzt ein Mädchen, das Abermillionen in aller Welt begaffen wollen, und spricht. Doch Natascha Kampusch redet nicht wie unsereins, eher wie ein Buch: Ihre Vergangenheit ist das Imperfekt, den Konjunktiv verwendet sie richtig, Wortschatz und Reflexionsniveau, die Fähigkeit zu rationalisieren ragen weit über das Altersgemäße ihrer 18 Jahre hinaus. Es gibt in Österreich nicht allzu viele, Personen des öffentlichen Lebens eingeschlossen, die sich ähnlich präzise und differenziert artikulieren können. Natascha Kampusch verdient und verschafft sich Respekt, sie beeindruckt jeden. Kein Wunder, dass sie fast ehrfürchtig als "junge Frau" tituliert wird."

Weinzierl übertreibt nicht. Unisono proklamieren die Experten, dass Natascha Kampuschs sprachliche Kompetenz beinahe ein Wunder sei. Wenn man davon ausgeht, dass sie nicht überdurchschnittlich intelligent und sprachlich begabt ist, ergeben sich aus diesem Sachverhalt mehrere interessante Fragestellungen:

1) Warum gilt es in Österreich als Sensation, wenn sich jemand zusammenhängend auf Deutsch mitteilen kann?
2) Ist es nicht vielmehr so, dass Natascha Kampusch gar nicht so toll Deutsch kann, sondern unsere Maturanten einfach so schwach sind, dass sie im direkten Vergleich als Lichtgestalt der österreichischen Germanistik erscheint? Dürfte man also von einem Maturanten nicht wesentlich mehr erwarten dürfen?
3) Wie ist es möglich, dass in vielen Gegenden Österreichs Schüler die Deutschmatura bestehen, obwohl sie nicht einmal auch nur für kurze Zeit und unter Aufbietung aller Kräfte Deutsch richtig artikulieren können? (Ich denke da an alle Tiroler und Vorarlberger, aber die Liste ließe sich endlos fortsetzen.) Vielleicht hat es ja auch damit zu tun, dass acht Jahre lang Ein-Wort-Sätze als Antworten durchgehen.
4) Zeigt uns der Fall Kampusch nicht einfach, dass Deutsch in Österreich als erste Fremdsprache unterrichtet wird und, wie im Falle anderer Fremdsprachen auch, von vielen Österreichern einfach nicht beherrscht wird?
5) Würde nicht zumindest ein Drittel aller österreichischen Staatsbürger an den Deutschtests scheitern, die man nun für Ausländer vorsieht? Sollte man nicht gleich die Gesamtbevölkerung testen und verpflichtende Kurse vorschreiben, wenn das Niveau nicht passt? Wie wäre es mit Deutschtests anstatt des kleinen Latinums für alle Studenten?

Ich finde es einfach nicht cool, dass nur manche Österreicher nach jahrelanger Ausbildung (siehe ORF Nachrichtensprecher) halbwegs fehlerfrei sprechen können, ohne dass es gekünstelt oder gezwungen klingt. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Großteil der österreichischen Akademiker schlechter Deutsch kann als der durchschnittliche bundesdeutsche Oberstufenschüler. Es mangelt ja nicht an Intelligenz, sondern an Fertigkeiten. So wie ein Großteil der österreichischen Volksschüler am Ende der vierten Klasse nicht Lesen, Schreiben oder Rechnen kann, so scheitern unsere Maturanten daran, einen halbwegs komplexen Sachverhalt mündlich oder schriftlich überzeugend darzustellen. Im Gehirn wären die Bausteine dafür durchaus vorhanden, aber die Fähigkeit diese grammatikalisch überzeugend zu verknüpfen, ist nur rudimentär vorhanden.
Wenn die Grünen behaupten, dass Österreich die größte Bildungsreform und -offensive der 2. Republik braucht, dann kann ich nur zustimmen. Ob ihre utopischen Vorstellungen umsetzbar sind, wage ich hingegen zu bezweifeln.

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4 Comments:

At 13. September 2006 um 16:32, Anonymous Anonym said...

Könnte es nicht doch auch so sein, dass die junge Frau K. überdurchschnittliche Intelligenz & Sprachbegabung hat? siehe auch dort

 
At 15. September 2006 um 09:34, Anonymous Anonym said...

Es ist nicht besonders schwer nachzuvollziehen, dass eine Person die laut eigenen Angaben ihr Wissen aus Lexika und Kindersachbüchern bezieht, auch so redet wie es dort geschrieben steht.
Ich glaube aber schon, dass Natascha Kampusch sich in den Jahren ihrer Gefangenschaft ein fundiertes Allgemeinwissen angeeignet haben kann. Schließlich hatte sie jede Menge Zeit und setzte sich auf eigene Initiative mit Büchern und dann auch Radio auseinander. (Während der gemeine Pflichtschüler ja oft nur körperlich im Unterricht anwesend ist und offensichtliches Desinteresse an ebendiesem auch Ausdrucksform der pubertären Rebellion gegen alles und jeden ist.)

Österreich und der ganzen Welt wurde im Interview eine junge Frau präsentiert, die den Eindruck machte erheblich älter und reifer als 18 Jahre zu sein. Vielleicht durch ihr Schicksal, um einiges überlegter als der "normale" 18 Jährige; nur vergessen wir eines nicht: Natascha Kampusch wird lange Therapie brauchen, und hat - so glaube ich - ihre Unsicherheit in der neuen, freien Umgebung mit diesem belesenen und selbstreflektierendem Auftritt meisterhaft überspielt.

 
At 16. September 2006 um 15:03, Anonymous Anonym said...

Woher Natascha Kampusch ihre Sprache hat, das seh ich so wie Martina. Die Aufregung und Sensation gründet sich aber auch viel darin, denk ich, dass alle einen Kasper Hauser erwartet haben, der sabbert und gerade mal einen auswendig gelernten Satz sagen kann. Weil, dann könnte man die ganze Sache die Kampusch zugestoßen ist, schön einreihen. Wer ist gut, wer ist böse in diesem Spiel usw. Was man da gesehen hat, macht alles - die Entführung, das Leben in Isolation, die Beziehung zum Täter - höchst kompliziert......aber ich schweife schon wieder ab. Wie gesagt, ich glaube man war deshalb so über ihre Sprache verwundert, weil man dachte, da kommt eine Nell oder so.

 
At 19. September 2006 um 10:28, Anonymous Anonym said...

Ewig schade. Da wollte ich mein geschätztes österreichisches Umfeld zu wütenden Protesten provozieren, aber niemand ist bereit, unsere Sprachkompetenz zu verteidigen. Zumindest hätte ich mir ein Statement in der Richtung von "Mia san vü bessa, ois wos du glaubst, Debada!" erwartet.
Zu Natascha Kampusch: Ich gebe euch natürlich Recht. Außergewöhnliche Umstände führen zu außergewöhnlichen Ergebnissen. Und wenn da ein Sprachtalent vorhanden ist, wird es durch die schreckliche Langeweile und die Verfügbarkeit von Büchern stark entwickelt.
Ich kann auch schlecht beurteilen, was andere 18-jährige wissen, weil ich - bis auf Studenten - mit dieser Altersgruppe keinen Kontakt habe. Von meiner eigenen Schulzeit weiß ich noch, dass blöd daherreden ziemlich cool war. Ich war auch selbst ein Meister der Ein-Wort-Antworten. Wahrscheinlich bedauere ich es, dass ich selbst nie richtig gefördert wurde. Lesen und Schreiben habe ich erst auf der Uni gelernt.

 

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