Arschgeweih
Liebe Bauchfreimodenbenutzerinnen!
Aus aktuellem Anlass unterbrechen wir unser Programm und senden einen Artikel der ZEIT aus dem Vorjahr:
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Vor einigen Tagen habe ich beim Zeitunglesen ein neues deutsches Wort gelernt. Es klingt jetzt erst mal ein bisschen vulgär. Ich vermute, dass dieses Wort noch niemals in der ZEIT gestanden hat. Es lautet: Arschgeweih. Es gehört zum modernen Leben von heute dazu. Ich setze mich momentan geistig damit auseinander.
Als Arschgeweih werden in der Umgangssprache Tätowierungen knapp über dem Steißbein bezeichnet. Sie sind in der Regel geschwungen wie Flügel oder verschnörkelt wie die Geweihe größerer Huftiere.
Der Fachpresse habe ich entnommen, dass eine Tätowierung in der Vertikalen mindestens doppelt so lang sein muss wie in der Horizontalen und annähernd Kreuzform besitzen sollte. Nur dann handelt es sich nach den Regeln des Bundesverbandes der Gesäß- und Schenkeltätowierer um ein deutsches Arschgeweih im klassischen Sinn. Alles andere seien Scheinarschgeweihe oder gar Arschgeweihimitate aus Billiglohnländern.
Die traditionellen geschlechtlichen Rollenmodelle gelten in vielerlei Hinsicht als überwunden. Das Tragen von Arschgeweihen aber ist in unserer Gesellschaft immer noch weitgehend Frauensache. Das Geweih gilt als ästhetische Folgeerscheinung der Bauchfreimode. Wenn man nämlich vorne den Bauch frei lässt, bleibt nach den Gesetzen der Natur auch hinten der Rücken frei. Vorne in den Bauchnabel kommt bei der Bauchfreimodenbenutzerin als Highlight in der Regel ein Piercing hinein. Hinten sitzt als Backhighlight das Geweih.
Nach meiner Beobachtung haben solche Geweihe neben ihrer schmückenden und ihrer sexuell anregenden Funktion auch die Aufgabe, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu signalisieren, ähnlich wie die Gesichtstätowierungen von Kriegern bei Naturvölkern. Wer zum Beispiel eine Soziologieprofessorin oder eine Ethnologin entkleidet, wird in der Endphase des Entkleidungsvorgangs nur in den seltensten Fällen auf geweihartige Fundstücke stoßen. Ganz anders sehen die Chancen aus, wenn es zur Entkleidung einer Auszubildenden im Friseurhandwerk kommt oder der aktuellen Freundin von Oliver Kahn.
Die Geweihträgerin bekennt sich, vereinfacht gesprochen, zu einer dezidiert antiakademischen und mehr praktisch orientierten Lebensweise. Sie verweigert sich dem permanenten Weiterbildungs- und Theoriedruck der Moderne. Geistesgeschichtlich gesehen, gehört das Arschgeweih also in den Kontext der Globalisierungskritik.
Jäger sammeln Geweihe. Deswegen liegt die Vermutung nahe, dass es im Männermilieu inzwischen einen neuen Typus von Geweihsammlungen gibt. Man muss die Geweihe bloß unauffällig fotografieren. Man könnte sie rahmen und aufhängen oder die Fotos in Alben kleben, die man bei Herrenabenden gemeinsam betrachtet oder tauscht.
Bei meinen Recherchen im Internet aber habe ich nichts dergleichen entdeckt. Stattdessen wird, wer den Begriff eingibt, auf eine Seite geleitet, wo bärtige Rockertypen T-Shirts mit dem Aufdruck »Keine Macht dem Arschgeweih« anbieten. Das A. scheint speziell bei Rockern extrem angst- und unlustbesetzt zu sein. Vielleicht sind es Sexualängste. Aber mit Rockern kenne ich mich nicht so aus.
(c) DIE ZEIT 27.05.2004 Nr.23
Labels: Journalismus
4 Comments:
böser beitrag! sehr gut!
In tiefer Demut verneige ich mein Haupt vor der meisterlich geführten Klinge des Sarkasmus! Spitzen-Blog!!
Aber sag an, obi-wan: ist das Arschgeweih nicht die evolutionäre Trendsteigerung zu den chinesischen Schriftzeichen, die an vielen Stellen Bedienungskörper mitunter aber auch Nachtschichtarbeiter zieren?
Sollte womöglich das Tatoo als Unterscheidungsmerkmal von Blue-collar und White-collar-worker in der Post-Popkultur etabliert werden - frei nach dem Motto: Spielt nicht mit den Schmuddelkindern??
@ Tinchen
Als Abonent der "Frau am Herd" muss ich mich diesbezüglich einschalten,da der Trendwandel vom Schriftzeichen zum Arschgeweih unweigerlich mit der Person David Beckhams verbunden ist. Letzterer glaubte nämlich mit chinesischen Zeichen am Körper cool zu sein,doch sein werter Tätowierer hatte wohl am Vortag zu tief ins Glas geschaut und seither ziert ein Unwort seinen Unterarm. Dumm gelaufen, ist aber wahr!
Vielen Dank für die Blumen. Das Lob gebührt aber Harald Martenstein, der den Artikel für die ZEIT schrieb, und meinem Bruder, der mich darauf hinwies (und sich übrigens auf diesen Seiten hinter dem Pseudonym "Balberith" versteckt.) Nachdem ich, wie man vielleicht schon bemerkt hat, ein Freund des gepflegten Sarkasmus bin, musste ich diesen Text unserer kleinen Community einfach vorstellen.
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