Dienstag, 7. Juni 2005

Mythos Mensch

Liebe Mythologen!

"Every person carries within himself a rough draft, perpetually reshaped, of the story of his life." (Philippe Lejeune)

Die Autobiografieforschung ist nicht nur für Literaturwissenschaftler interessant, sondern eigentlich für jeden. Die wenigsten setzen sich tatsächlich im Laufe ihres Lebens hin und schreiben ihre Lebensgeschichte auf, aber jeder von uns trägt das Rohmaterial dafür in sich. Entscheidend ist der Umstand, dass es sich um eine Geschichte handelt und diese somit den Erfordernissen der Erzählliteratur unterworfen ist: wenige Charaktere und Themen, eine aufbauende, zusammenhängende Handlung, ein Spannungsbogen, eine Beschränkung auf zentrale Episoden und eine Erzählerfigur, die durch die Lebensgeschichte hindurchführt und kommentiert.

Da wir alle einzigartig und ganz besondere Menschen sind, haben auch wir uns eine spannende Geschichte zurechtgelegt, die wir anderen, aber besonders uns selbst so oft erzählen, dass wir mittlerweile auch selbst schon daran glauben. Das entscheidende Mittel scheint dabei eine Mythologisierung des eigenen Lebens zu sein. Ganze Abschnitte in der Biografie sind plötzlich von einem großen zentralen Thema bestimmt: die Unterdrückung durch die dominante Mutter, die Leiden eines schulischen oder beruflichen Versagers, die emotionale Verwahrlosung als Teenager, die Konkurrenz mit der älteren Schwester, der ständig alkoholisierte Vater etc. Begegnungen und Erlebnisse werden als schicksalshafte Wendepunkte erkannt und als solche präsentiert: der Auszug aus dem Elternhaus, ein längerer Auslandsaufenthalt, die Lektüre eines Buches (oder der Konsum einer anderen Konserve), ein Mensch, der plötzlich in das eigene Leben tritt, etc. Alles Erlebte, Gesehene, Empfundene muss in dieses master narrative passen oder wird als Anomalie erst gar nicht erwähnt bzw. vergessen. Die Dramatik der eigenen Existenz wird da schnell zum Filmstoff.
Da unser Konzept der eigenen Identität aber so stark an unsere Lebensgeschichte gebunden ist, müssen wir davon ausgehen, dass diese in manchen Bereichen auf Fiktion beruht. Wir sind eben total in unserer eigenen Subjektivität gefangen und uns der ständigen Verfremdung von Tasachen durch die narrative Aufbereitung von Erlebnissen nicht bewußt. Wir identifizieren uns auch besonders gerne mit Geschichten, die unsere eigene Geschichte widerspiegeln. Durch den Zwang, ständig Sinn stiften zu müssen, wird Lebensgeschichte zwangsläufig zu einer Erzählung. Der Abstraktionsprozess filtert viele Details raus und Geschichten werden sich plötzlich ähnlich. Wie können wir eigentlich so einzigartig sein, wenn wir uns dauernd in anderen Menschen bzw. Charakteren und deren Situationen wiedererkennen?

Wir können nur Sinn stiften, indem wir erzählen und erzählen, indem wir Sprache benutzen. Sprache bedeutet Flexibilität, aber auch feste Strukturen. Es ist eigentlich völlig egal, ob Sprache unsere Denkstrukturen spiegelt oder umgekehrt. Entscheidend ist, dass wir außerhalb der Regeln nicht denken können. Also pressen wir unsere Inhalte in fixe Formen. Die Lebensgeschichte ist wie jedes andere Genre: sie gehorcht spezifischen Regeln. Erst dadurch wird sie als Text für uns und andere schlüssig. Dass dabei viele Details nicht ins System passen und so manches erst adaptiert werden muss, ist völlig klar. So wird Leben zur Geschichte.

Im Umgang mit anderen Menschen gibt es eigentlich nur eine entscheidende Frage: Worin besteht deren Mythos? Meistens ist es irgendeine mehr oder weniger versteckte Form von Stolz: das Meistern einer besonders schwierigen Aufgabe, das Abstreifen von irgendwelchen Fesseln, eine besondere Begabung in irgendeinem Bereich, die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen und umzusetzen. Bei den Schwachpunkten und Minderwertigkeitskomplexen sind wir natürlich gerne Opfer äußerer Umstände. Hat man erst einmal die Mythen einer Person ansatzweise verstanden, ist schon viel gewonnen. Da werden dann plötzlich allerlei Details klar, die man vorher nicht einordnen konnte.

Gibt es denn gar keinen Ausweg aus dieser deterministischen Lebensanschauung? Natürlich gibt es den. Wir zeichnen ja nicht nur auf, sondern planen auch die nächsten Kapitel. Da wir aber mit der Hauptfigur der Erzählung so vertraut sind, kommen uns radikale Änderungen in der Handlung unglaubwürdig vor. Wir hören eben gerne die selben alten Geschichten. Dabei könnten wir langfristig denken und jetzt schon kleine versteckte Hinweise in die Erzählung einbauen, die dann ein paar Kapitel weiter mehr oder weniger plötzlich zum Riesenthema und Wendepunkt werden. Schließlich erzählen die Geschichte immer noch wir selbst.

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