Montag, 13. Februar 2006

Staunen

Liebe Kindsköpfe!

Manche haben es sich bewahrt, das Kind, das ursprünglich in jedem von uns steckte. "Das Kind im Mann" ist ja geradezu sprichwörtlich, aber was ist eigentlich mit dem Kind in der Frau? Sind da außer der Farbe Rosa, einer irrationalen Tierliebe (vor allem Hunde), der Maskottchensucht (in Form von niedlichen Stofftierchen) und der Begeisterung für ganz süße Dinge (Optik und Schokolade sind gemeint) noch irgendwelche Anzeichen übrig?

Ich möchte heute eine Lanze für alle echten Kindsköpfe brechen und besonders für die wenigen Frauen unter uns.
Zuerst einmal ist da die Freude am Unnützen. Nicht alles muss sinnvoll und effizient sein. Das Unnütze hat ja oft etwas Spielerisches an sich und ist dadurch gerade nicht sinnlos, sondern kreativ. Alle Menschen haben dieses Potential in sich, aber die meisten leben es nur als Kinder aus und lassen es dann verkümmern, was sehr schade ist. Sich auf das Ungewisse, Unbekannte oder Unerwartete einzulassen erfordert eben ein bisschen Risikobereitschaft und dazu sind viele später nicht mehr bereit. Das Wichtigste im Leben entsteht aber nicht aus Planung und Zahlen, sondern aus dem Herumprobieren, Experimentieren und Hinterfragen.
Dadurch sind Kindsköpfe oft Querdenker und Aussenseiter. Sie fallen ständig auf und die Mehrheit reagiert belustigt. Sie müssen halt einen Schneeball werfen, in eine Pfütze springen oder irgendeinen Blödsinn kaufen. Ich frage mich manchmal, ob in der Geste der amüsierten Herablassung der Karrieristen, Lebensversicherer und Schutzwestenträger nicht ein bisschen Eifersucht mitschwingt.
Kindsköpfe haben auch das Staunen nicht verlernt. Es ist nicht alles gleich grau und uninteressant oder revolutionär und must-have, nur weil die Medien das vorgeben. Staunen ist, genau genommen, die Fähigkeit besonderen Ereignissen Bedeutung beizumessen, indem man selbst innehält and das Unerwartete auf sich wirken lässt. Das gilt auch besonders für den Umgang mit anderen Menschen. Was man glaubt von anderen zu wissen sind nur Eindrücke, die dem eigenen Wahrnehmungsraster entsprechen. Man muss aber auch dazu bereit sein, über das gänzlich Fremde oder Unerwartete staunen zu können. Unser gefräßiger (Kultur)liberalismus wirft alle Zutaten in einen Topf und macht daraus einen lauwarmen Brei aus nicht mehr unterscheidbaren Teilen. Das andere als besondere Qualität wahrzunehmen geht aber nur über das Staunen.
Deshalb wünsche ich uns allen, dass uns diese Fähigkeit nicht verloren geht.

Donnerstag, 9. Februar 2006

Am Steuer

Liebe Lenker!

Steuern, lenken, führen - im Transportbereich ist der Mensch noch Herr der Maschine. Dort sitzt er noch am Ruder und hält sein Schicksal selbst in Händen. Auch wenn jedes Jahr hunderte auf asphaltenen Altären dem Gott der Mobilität geopfert werden - bevor Mensch und Maschine unheilig ineinander verschmelzen, herrscht Euphorie. Der Reiz des Fahrens besteht nicht nur in der Geschwindigkeit und Kontrolle über das Fahrzeug, sondern auch in der Überschreitung der Normen. Leidenschaftlichen Fahrern geht es nicht um das Ziel sondern um die Bewegung. Der moderne Mensch fühlt sich nämlich in seiner persönlichen Freiheit zunehmend eingeschränkt und von externen Kräften dominiert. Auf der Straße aber kommt das Easy Rider Feeling wieder auf: Der Mensch läuft nicht mehr als Zahnrad im großen Getriebe, sondern bewegt sich selbstbestimmt voran.
Als Opfer des öffentlichen Verkehrs, das oft lange in klirrender Kälte zu warten hat, fallen mir diese psychologischen, vielleicht sogar psychohygienischen Aspekte des Fahrens besonders auf: Unabhängigkeit, Freiheit, Selbstbestimmtheit. Der Verzicht auf die individuelle Mobilität fällt oft schwerer als jede andere Einschränkung. Tempo ist ja geradezu ein Grundpfeiler der modernen Existenz und der Nicht-Motorisierte hinkt den Erfordernissen der Speed-Gesellschaft hinterher.
Oder handelt es sich um eine große Illusion und der Fußgänger und Zugfahrende, der Nicht-an-der-Welt-Vorbeifahrende, beneidet zu Unrecht den Maschinisten? Für die literarisch Interessierten habe ich jetzt noch Thom Gunn's ON THE MOVE, das nicht nur zu seinen bedeutendsten Gedichten zählt, sondern auch alle meine Fragen aufgreift (oder greife ich Gunn's Fragen auf ??).

Thom Gunn: ON THE MOVE (1957)

'Man, you gotta Go.'

The blue jay scuffling in the bushes follows
Some hidden purpose, and the gush of birds
That spurts across the field, the wheeling swallows,
Have nested in the trees and undergrowth.
Seeking their instinct, or their poise, or both,
One moves with an uncertain violence
Under the dust thrown by a baffled sense
Or the dull thunder of approximate words.

On motorcycles, up the road, they come:
Small, black, as flies hanging in heat, the Boys,
Until the distance throws them forth, their hum
Bulges to thunder held by calf and thigh.
In goggles, donned impersonality,
In gleaming jackets trophied with the dust,
They strap in doubt - by hiding it, robust -
And almost hear a meaning in their noise.

Exact conclusion of their hardiness
Has no shape yet, but from known whereabouts
They ride, direction where the tires press.
They scare a flight of birds across the field:
Much that is natural, to the will must yield.
Men manufacture both machine and soul,
And use what they imperfectly control
To dare a future from the taken routes.

It is part solution, after all.
One is not necessarily discord
On earth; or damned because, half animal,
One lacks direct instinct, because one wakes
Afloat on movement that divides and breaks.
One joins the movement in a valueless world,
Crossing it, till, both hurler and the hurled,
One moves as well, always toward, toward.

A minute holds them, who have come to go:
The self-denied, astride the created will
They burst away; the towns they travel through
Are home for neither birds nor holiness,
For birds and saints complete their purposes.
At worst, one is in motion; and at best,
Reaching no absolute, in which to rest,
One is always nearer by not keeping still.