Donnerstag, 30. März 2006

Krank

Liebe Gesunde!

Viele halten mich prinzipiell für krank (was ich durchaus als Kompliment auffasse) und einige schon für tot, weil ich jetzt wochenlang von der Bildfläche verschwunden bin.
Nun hat mir tatsächlich vor einigen Wochen ein Grippevirus den Boden unter den Füßen weggezogen und mich für vier Tage (24.-27.2.) in die eigenen vier Wände verbannt. Dies passiert so ungefähr alle vier Jahre einmal und ist somit etwas Besonderes für mich. Ich lag also ein ganzes verlängertes Wochenende lang halbtot auf dem Sofa und nützte die verbleibende Restenergie um zwischendurch die dritte Staffel von SIX FEET UNDER zu sehen.
Krankheit wird ja allgemeinhin als negative Erfahrung und verlorene Zeit eingestuft, aber dem möchte ich hier ausdrücklich widersprechen. Zuerst einmal wird man ziemlich abrupt aus seinem Leben herausgerissen. Gerade lief man noch als kleines Zahnrädchen im großen Getriebe des eigenen Lebens und plötzlich liegt man als kaputter Maschinenteil daneben und kann sich dieses komplexe technische Konstrukt, das nach langen Jahren wieder einmal völlig zum Stillstand gekommen ist, in Ruhe ansehen. Dabei hilft es sehr, dass man schwach und völlig hilflos ist, weil man ja sonst niemals aufgeben würde und sich lieber ein paar Pillen in die Birne knallt, um weiter funktionieren zu können. The show must go on, aber manchmal muss man auch vier Vorstellungen absagen, um danach wieder weiterspielen zu können.
Die Welt der Krankheit ist vor allem eine zeitlose. Während sonst das Leben minutenweise verplant ist und einem die Zeit wie Sand zwischen den Fingern davonläuft, hat man jetzt plötzlich mehr als genug davon. Man verliert nicht Zeit, sondern gewinnt sie. Endlich kann man einmal nichts tun, was ja sehr viele Menschen als großen Wunsch äußern - einfach einmal abschalten und den Alltag vergessen. Die Grippe hat ein offenes Ohr für solche Anliegen und hilft gerne.
Ein weiterer Vorteil ist die radikale Isolierung. Die meisten von uns machen sich ja Sorgen, ob sie genug Zeit mit wem auch immer verbringen, während sie sich in Wirklichkeit fragen sollten, ob sie genug Zeit mit sich verbringen. Es ist nämlich wesentlich problematischer, wenn man den Kontakt zu sich selbst verliert, als zu irgendjemand anderem, ganz egal wie wichtig und nahe diese Person einem ist. Da die innere Stimme nicht mehr direkt gehört (oder bewußt ignoriert) wird, muss sie in unserer Zeit oft den kommunikativen Umweg über psychosomatische Leiden wählen. Mein Husten verrät mir auch im Moment, dass ich die innere Stimme ziemlich drastisch abwürge, aber oft hat man auch keine andere Wahl.
Abschließend möchte ich sagen, dass man Krankheit nicht als Katastrophe, sondern als Chance sehen sollte. Man kann den Betrieb für kurze Zeit ein wenig von außen betrachten und ein bisschen mehr auf seine innere Stimme hören.

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