Freitag, 24. September 2010

Web 2.0

Liebe social networker,

während ich als überzeugter techno geek jeden verrückten Trend sofort mitmache (Ich habe mir diese Woche einen LCD Fernseher gekauft!), kann ich mich mit dem sogenannten Web 2.0 nicht so recht anfreunden. Im Gegensatz zu den meisten Kritikern, die immer davor warnen, dass man auf diesen social networking Seiten zu viel von sich selbst preis gibt, habe ich eine Vielzahl anderer Probleme mit diesem stündlichen Hinausposaunen der momentanen Befindlichkeit.

1) Die Banalität der Existenz
Jeder weiß, wie langweilig sein eigenes Leben über weite Strecken ist. Oft lassen sich ganze Tage oder Wochen in ein paar Sätzen zusammenfassen und die Standardantwort auf die Frage "Und, wie war so dein Tag?" ist in 99% aller Fälle "War nicht viel los." Vielleicht hat man ein Mal im Monat ein interessantes Erlebnis, das es wert ist weitererzählt zu werden. Deshalb wäre es eine absolute Horrorvorstellung für mich ständig darüber berichten zu müssen, wie man seine Zeit mit Banalitäten zubringt und - noch viel schlimmer! - erfahren zu müssen, wie andere ihre Existenz fristen.

2) Die sekundäre Welt
So wie SECOND LIFE ist das ganze Internet eine sekundäre Welt und das eigene Empfinden findet fast ausschließlich über Medien statt. Beziehungen werden über SMS, E-Mails und Telefonate angebahnt; Filme sind das einzige, das uns noch rührt und ergreift; unter Naturerlebnis verstehen wir eine Blu-Ray aus der Universum-Reihe.
Da es indirekt und irgendwie nicht echt ist, verleitet das Internet zum Spielen, zum Schummeln, zum Senken der eigenen Hemmschwelle. Man muss sich nichts und niemandem direkt stellen. Alle realen Probleme sind wie weggeblasen, denn die (scheinbare) Anonymität schützt mich wie ein Wall und, im Gegensatz zur realen Welt, erlebe ich mich als jemanden, der die Fäden in der Hand hält.

3 Die Ver-Beamtung des Privatlebens
Der Verwaltungsaufwand für die eigenen Avatare im Internet ist enorm. Im Endeffekt müsste man ständig online sein, um seine Profile auf dem neuesten Stand und seine 500 Freunde bei Laune zu halten. Das Internet ist der größte Ressourcenfresser der Welt - wahrscheinlich noch vor den Chinesen. Menschen, die gezwungen sind in der realen Welt einem Beruf nachzugehen oder soziale Kontakte pflegen wollen, stoßen bald schon an die Grenzen des Machbaren. Die meisten Schüler und Studenten verkommen zu Verwaltungsbeamten ihrer eigenen virtuellen Existenzen.

4) Der globale Marktplatz
Wie am mittelalterlichen Marktplatz bietet das World Wide Web ein Forum, wo jeder - ganz demokratisch - sagen und tun kann was er will. Gerüchte und Halbwahrheiten machen die Runde, aber die sind sowieso viel interessanter als Fakten, zu denen man nur schlecht Zugang hat. Die Weichenstellungen passieren woanders, also kann man sich in Ruhe dem Gewäsch hingeben. Wie die Waschweiber, deren aufregendes Leben vom Erleben anderer abhängt, stehen alle rum und dealen mit Gschichtln. Wie am Stammtisch haben oft die Lautesten Recht.

5) Die Illusion der Gemeinschaft
Diese tolle Gemeinschaft im Internet ist aber nur im übertragenen Sinn ein mittelalterlicher Marktplatz. Denn hier trifft man sich nicht wirklich. Der lebende Körper kauert isoliert vor einem Computer oder hängt in einer Ecke, denn nur das Gehirn und die Finger sind aktiv. Das Internet ist - wie alle Medien - oft eine Ersatzbefriedigung. Robert Venditti's graphic novel THE SURROGATES (2005-2006) zeigt das sehr schön, wenn auch die Handlung im Endeffekt etwas dürftig ist.

6) Die Instant-Gesellschaft
Der größte Widerspruch unserer Zeit ist vielleicht der, dass wir einerseits alles sofort in optimaler Qualität haben wollen, andererseits aber immer schludriger werden, was unseren eigenen Output anbelangt. Ein traditionelles Fotoalbum bedeutet(e) stunden- wenn nicht tagelange Arbeit, resultierte aber in einem ansehnlichen Ergebnis. Heute werden Unmengen von Einzelschnappschüssen irgendwo hingekippt oder draufgekleistert.
Leider ist der Mensch in vielen Bereichen nicht so toll, wie unser Beiname "Die Krone der Schöpfung" vermuten ließe. Manchmal sitzen wir 10 Minuten, um auch nur einen einzigen Satz richtig hinzubekommen. All unsere größten Leistungen und Einsichten gehen darauf zurück, dass sehr, sehr viele Menschen sehr viele Stunden wie die Blöden geackert haben. Hinter einem herzeigbaren Ergebnis steckt eben eine Menge Arbeit. Leider sind wir aber kulturell so weit, dass die Jugend E-Mails und Blogs ablehnt, weil SMS und Twitter noch schneller gehen. Das selbe gilt für das neue Leitmedium Film, das immer mehr den Text ablöst. Jeder nimmt sich lieber mit einer Kamera auf, quasselt drauflos und stellt das Ergebnis bei youtube rein. Dass die Aufmerksamkeitsspanne deutlich gesunken ist, merkt man schon, wenn man sich eine alte Fernsehserie anschaut, bei der eine Folge noch 45 Minuten dauerte. das war ein halber Spielfilm. Heute muss ein wahres Gagfeuerwerk auf uns herniederprasseln, damit wir überhaupt eine Folge mit 20 Minuten zu Ende sehen.
Ich will hier nicht den Kulturpessimisten raushängen lassen, aber ich merke an mir selbst, wie ich mich schön langsam umprogrammiere, denn früher hatte ich noch mehr Geduld und Ruhe. Wohin verschwindet aber die ganze Zeit, die wir ständig einsparen? Ich vermute einmal, dass wir sie mit kurzweiligen Banalitäten verplempern.

Wie der geniale Marshall McLuhan vor vielen Jahrzehnten feststellte, besteht die Wirkung von Medien nicht in ihren Inhalten, sondern in den Verhaltensweisen, die sie hervorrufen. Es geht nicht um das konkrete Foto auf einer Facebook Seite, sondern um das soziale Verhalten des Profilverwalters. Natürlich ist die Flucht in die sekundäre Welt eine sehr verlockende und begleitet uns unsere ganze Kulturgeschichte hindurch. Neu ist der Einstieg in diese Fantasiewelt über jedes Smartphone und das unendliche Angebot. Wenn ich mit fast 40 ernste Schwierigkeiten habe mich vom Internet loszureißen, wie geht es dann einem 14jährigen?
Deshalb halte ich mich vom Web 2.0 möglichst fern, wahrscheinlich weil ich genau weiß, dass ich selbst am gefährdetsten wäre.

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Donnerstag, 9. September 2010

Xavier Naidoo

Liebe Xavianer!

Nach Steve Jobs und der Apple-Sekte wende ich mich heute dem nächsten Heilbringer zu: Xavier Naidoo. Auf den ersten Blick scheint es da kaum Übereinstimmungen zu geben, außer dass beide dick im Entertainmentbusiness sind, mörderisch Geld schäffeln, dabei den coolen Jungen raushängen lassen und kultisch verehrt werden. Dank meines Bruders hatte ich gestern die Gelegenheit den Xavier live in Linz zu sehen. In meinen Reaktionen bin ich etwas hin- und hergerissen, deshalb präsentiere ich beide Standpunkte hintereinander:

Der treue Fan spricht:

Eigentlich habe ich mich schon seit NICHT VON DIESER WELT (1998) sehr für XN interessiert. Das war damals etwas völlig Neues. Anspruchsvolle deutsche Musik (und Kinofilme) waren vor 15 Jahren nämlich die große Ausnahme. Man könnte behaupten, dass es die deutschen Rapper (Fanta4 und Rödelheim Hartreim Projekt) waren, die deutsche Texte wieder salonfähig machten. Nicht zufällig fing Xavier bei den Rödelheimern als Backgroundsänger an und wurde auch von Moses Pelham anfangs produziert. (Das waren die Sabrina Setlur Zeiten, wenn sich noch jemand erinnert.) Kraftvolle Stimme, interessante Texte, tolle Melodien - so wurde XN schnell zum Phänomen. Mir gefiel auch die Radikalität der nächsten Doppel-LP sehr gut, besonders DISC 2: ALLES FÜR DEN HERRN (2002). Damals war ich schon einmal bei einem Live-Konzert, das mir sehr gut gefallen hat. Danach verlor ich etwas das Interesse und bin jetzt erst wieder durch das Konzert in Linz up-to-date.

Das Wetter hielt sich trotz der Ankündigung von Regen schön zurück und die Stimmung war sowohl auf der Bühne als auch davor recht gut. Der Sound war hervorragend ausbalanciert und die Band super eingespielt. Insgesamt hatte ich das Gefühl, dass sich XN vor allem auf diesem Gebiet sehr gesteigert hat. Mit über zwei Stunden Konzert geizte er auch nicht mit seiner Präsenz, obwohl seine Show sicher anstrengend sein muss. Eine große Überraschung war das vorwiegend junge Publikum um die 20. Ich hätte eher mit einem 30er Schnitt gerechnet. Insgesamt war der Abend sehr gelungen, auch weil er mein Lieblingslied "Sie sieht mich nicht" am Schluss noch zum Besten gab.

Der zynische Analytiker spricht:

Vor acht Jahren sang XN in "Der Herr knickt alle Bäume" noch über die Apokalypse: "Man wird vor Leichen in den Straßen auf Stelzen gehn". Da war der gute Mann noch christlicher Fundamentalist und hatte Ecken und Kanten. Gestern hampelte dann ein Gute-Laune-Apostel über die Bühne, der super bei SEEED reinpassen würde: ein bisschen Reggae, ein bisschen Bläser, ein kleines Tänzchen auf der Bühne, Friede, Freude, Eierkuchen, ... Irgendwie war ich da im falschen Film. Die Lyrics schienen vor Jahren auch schon teilweise aus dem Poesiealbum einer 15-jährigen Opus Dei Anhängerin geklaut, aber irgendwie klang das noch viel authentischer. Jetzt stellt er sich hin und singt "Alles wird besser werden". Super! Hört nicht auf zu Träumen! Wenn wir alle zusammenhalten wird alles besser! Das Beste liegt noch vor uns! Ich habe ja nichts gegen Optimismus, aber außer diesen Plattitüden kam dann nicht mehr viel. Hansi Hinterseer singt auch von den schönen Bergen und der ewigen Liebe. Wo ist da noch der Unterschied? In "Ich brauche dich" textet XN:

Ich lass deinen Namen auf meinen Rücken schreiben. Er soll bleiben.
Mit jedem Rücken brauch ich nicht an Angst und Schrecken leiden.
Ich lass deinen Namen auf meinen Rücken schreiben. Er soll bleiben.
Mit jedem Rücken brauch ich nicht an Angst und Schrecken leiden.

Ich brauche dich. Und ich tausche nicht.
Ich liebe dich. Mehr sag ich nicht.
Ich werde dich lieben, ehren.
Jeden Morgen verdank ich dir.
Und diese Liebe soll sich vermehren.
Meine Hoffnung lastet ganz auf dir.

Auf dem Niveau schreibe ich jeden Abend fünf Lieder. Während die Show musikalisch wirklich erstklassig war, fielen die Texte leider viel zu seicht aus. Teilweise hatte ich den Eindruck, dass er für 15-jährige Mädels sang, denn außer Balladen und Durchhalteparolen kam da nicht viel daher. Ich verstehe schon, dass er nicht immer und überall super politisch sein kann, aber message-mäßig kam da nicht viel rüber (um es auf Neudeutsch zu sagen). Am schlimmsten war das Glaubensbekenntnis: "Sag JA zur Liebe! Sag JA zu Oberösterreich! Sag JA zu Österreich! Sag JA zu Europa! etc. Das tat echt weh. Während rund um mich die gepiercten baseballmützentragenden Vorstadt-Ghetto-Gangster alle Tränen in den Augen hatten, weil der coole X so tolle Botschaften auf Lager hatte, drängte sich mir einer meiner seltenen Arroganzanfälle auf: Kein Wunder, dass song lyrics nicht als Kunst angesehen werden, wenn da so unbedarft drauflos gereimt wird: In meinem Herzen habe ich Schmerzen. Mir ist nicht zum Scherzen. Du hast mich verlassen, ich kann es nicht fassen. Was soll ich jetzt machen? Mir ist nicht zum Lachen. Es tut weh, wenn man verliert. Wohin hab' ich mich jetzt verirrt? Davon war der gute X leider nicht allzu weit entfernt. Somit fühlte ich mich zwangsläufig an Hagen Rethers wunderbare Grönemeyer-Verarsche erinnert:
http://www.youtube.com/watch?v=qQl4R6_dEww

Zu Naidoos Verteidung möchte ich am Schluss noch hinzufügen, dass er wahrscheinlich - wie das Publikum auch - einfach einen netten Abend wollte, bei dem es um nicht viel ging außer um Ohrwürmer und greatest hits. Er weiß, was die Fans wollen, also gab er ihnen die simplen Texte, die man super mitsingen konnte. Das galt vir allem für die deutschen Texte. Sag JA zu unserer Sprache! Und jetzt alle die Hände in die Höhe! Sagt alle JA! Sagt alle NEIN! Sagt alle VIELLEICHT! Ich sage Schluss für heute.

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