Donnerstag, 22. Dezember 2005

Ein Blick sagt mehr als tausend Worte

Liebe Kommunikationswissenschaftler!

In letzter Zeit beschäftigt mich wieder ein Phänomen, das sicherlich jeder von euch zur Genüge kennt. Am ehesten lässt es sich mit einem Cliffhanger in einer Fernsehserie vergleichen: Die Handlung verläuft in eine ganz bestimmte Richtung und plötzlich dreht ein Blick, eine Geste, ein Satz, ein flüchtiger Moment alles um und man sitzt mit offenem Mund vor der Glotze und denkt sich: Scheiße, was ist jetzt gerade passiert?
Genau das gibt es im richtigen Leben auch. Nichtsahnend plaudert man fröhlich vor sich hin, verzapft seine üblichen Geschichten ... - und plötzlich wird man stutzig. Nach dem Tschüss und dem schönen Wochenende kam noch ein weiterer Satz, den man nicht genau verstand, irgendwie dahingemurmelt, so als würde er schwer über die Lippen kommen. Irgendetwas mit schön und die Zeit nett verbracht. Und während man noch nachdenkt, dreht sie sich nochmals um, zögert ein wenig und geht. War das jetzt ...? Habe ich ...? Wie ...?
Man zweifelt ja sofort daran, dass da gerade etwas Außergewöhnliches passiert ist, auch wenn man genau weiß, dass dem so ist. Und dieser eine Augenblick läßt plötzlich alles in einem völlig anderen Licht erscheinen. Dabei war es doch nur ein flüchtiger Moment, aller Wahrscheinlichkeit nach völlig falsch interpretiert. Und trotzdem läuft der Prozessor auf Hochtouren. Ein ganzes Wochenende lang. Es war ja auch bei aller Unklarheit ziemlich deutlich, dass da womöglich irgendwie doch, wenn man es sich genau überlegt ...
Und irgendwie steht die Sache dann immer im Raum. Kann man da einfach hinlatschen und nachfragen: "Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, als du damals ... du weißt schon ... "Tschüss" gesagt hast?" Genau, das klingt sehr überzeugend. Und dann unterhält man sich stundenlang mit einem Bekannten genau über diese Sache. Was nonverbal in drei Sekunden über die Bühne ging wird dann plötzlich zur großen Spekulation. Wenn man einmal genau aufpasst, drehen sich sehr viele Gespräche darum, was irgendjemand gesagt, angedeutet oder getan hat. Das Gespräch wird zum Analyseinstrument für Signale, die jemand aussendet. Metakommunikation am laufenden Band. I saw the sign and it opened up my eyes? Not quite. Wenn man es sich recht überlegt, bleibt vieles unausgesprochen. Whereof I cannot speak, thereof I must be silent.

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Montag, 12. Dezember 2005

aktiv - reaktiv - radioaktiv

Liebe Krisengeschüttelte!

Heute werde ich mal den Jedimeister raushängen und alle an meiner grenzenlosen Weisheit teilhaben lassen. Im Leben eines jeden Menschen gibt es drei Bereiche: den aktiven, den reaktiven und den radioaktiven. Fangen wir mal mit letzterem an.

In der griechischen Sage schenkte Prometheus (griechisch für: der, der vorausdenkt) den Menschen das Feuer (Sinnbild für Kultur, Zivilisation und Fortschritt), damit sie sich von den Göttern emanzipieren konnten. Zeus wurde natürlich fuchsteufelswild und wollte Rache. Deshalb ließ er in der olympischen Wichtelwerkstatt von Hephaistos, dem Schmied, und den anderen Göttern die schönste Frau der Welt erschaffen, die er dann dem Epimetheus (griechisch für: der, der danach denkt), dem Bruder des Prometheus, zur Frau gab. Diese Pandora hatte eine Büchse als Geschenk mit. Obwohl Prometheus seinen Bruder vor Geschenken des Zeus warnte (er denkt ja auch mit!), machte dieser die Büchse der Pandora auf. Darin befand sich das ganze Übel der Welt, das Epimetheus, der immer erst danach klüger ist, auf die Menschheit losließ. Ich glaube, dass jeder von uns eine Büchse der Padora hat, in der all die Dinge stecken, die überhaupt nicht funktionieren. Da stecken auch die ganzen grundlegenden Fragen drinnen, auf die es keine Antworten gibt.
Aus irgendeinem wahnwitzigen Grund neigen wir dazu, in einer Krisensituation die Büchse aufzumachen, um zu sehen, was sonst noch alles im Arsch ist. Psychohygienisch ist das so, als würde man ein Riesengüllefass aufstellen und eine Handgranate reinwerfen. Da wird dann das Leben wirklich sehr schnell beschissen. Ich nenne diesen Bereich deshalb radioaktiv, weil er dich nicht sofort umbringt, sondern dich langsam vergiftet. Da läuft man normalerweise nämlich nur im Schutzanzug und für kurze Zeit herum, wenn man schon in den giftigen Altlasten herumwühlen will. Also: Hände weg vom Güllefass!
Jetzt können wir uns der nächsten Frage zuwenden: Wo kommt die Krise denn her? Diese kommt immer aus dem reaktiven Bereich. Dort finden sich all die Dinge, die wir (scheinbar) nicht beeinflussen können und auf die wir eben nur reagieren können. Kritisch wird es immer dann, wenn das Leben nur mehr aus Reaktionen besteht. Dabei ist es völlig egal, ob die momentan schwierige Situation vom Schicksal/Gott vorgesehen wurde oder aus eigenem Verschulden entstand. Da wären wir wieder bei den ganz großen Fragen, die in der Krisensituation ganz schlecht sind. Man steht also wie ein gelähmter Boxer im Ring, der sich gerade noch auf den Beinen halten kann und ständig vom Leben eins auf die Fresse bekommt. Wie kriegt der arme Boxer seine Beweglichkeit zurück oder wenigstens die Arme hoch, damit ein Schutz da ist, wenn man schon nicht dem Schlag ausweichen kann?
Beweglichkeit und Kontrolle sind im aktiven Bereich zu finden. Dieser ist in der Krisensituation auf ein Minimum zusammengeschrumpft oder nicht mehr existent. Der erste Schritt zur Besserung ist also weder der Gang zum Güllefass noch die Krisenursachenforschung: dafür hat man nachher Zeit, wenn es einem wieder besser geht. Entscheidend ist, dass man sich irgendeinen kleinen Bereich hernimmt, der nicht einmal etwas mit der schwierigen Situation an sich zu tun haben muss, und diesen aktiv zu kontrollieren beginnt. Zum Beispiel: Ich gehe jetzt jeden Tag vor Mitternacht ins Bett und stehe spätestens um 8 Uhr auf. Abends lese ich zwei Stunden und erst dann schalte ich den Computer ein. Etc. Dann nimmt man sich einen Teilaspekt aus dem reaktiven Bereich vor und sagt sich: Okay, wenn ich schon dieses und jenes tun muss, dann wenigstens zu meinen Bedingungen. Wenn ich schon für mein Geld arbeiten muss, dann suche ich mir den Job selbst aus. Wenn ich schon eine große Prüfung ablegen muss, dann lege ich fest, wann, wo und wie ich dafür lerne. Wenn meine Familie so und so tickt, dann habe ich in diesem System trotzdem einen gewissen Handlungsspielraum. Man kann das alles auch mit dem Film MATRIX erklären: Wenn ich schon in die Matrix rein muss, dann bestimme immer noch ich wo und wie ich reingehe und wieder rauskomme. Some rules can be bent, others can be broken. Wie man weiß, kommt es ja gerade nicht auf die Faktoren an, die oberflächlich so wichtig scheinen: "Do you think my being faster or stronger has anything to do with my muscles in this place?" Es ist eine reine Frage der Einstellung.
Wenn das alles jetzt zu banal war, dann kann ich auch nichts machen.

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Sonntag, 11. Dezember 2005

The 4400; or, Roger Ebert was right!

Liebe Freunde der gepflegten Unterhaltung!

1995 veröffentlichte Roger Ebert ein Büchlein, das folgenden, leicht ausufernden Titel trug: THE LITTLE BOOK OF HOLLYWOOD CLICHES: COMPENDIUM OF MOVIE CLICHES, STEREOTYPES, OBLIGATORY SCENES, HACKNEYED FORMULAS, SHOPWORN CONVENTIONS AND OUTDATED ARCHETYPES. Vier Jahre später folgte dann die extended version und der Titel wurde noch ein Spürchen länger:



Wie unschwer zu erkennen ist, geht es hier um Konventionen des Hollywood Kinos, die wir alle blind akzeptieren. Hier ein paar Beispiele:

When paying for a taxi, never look at your wallet as you take out a note - just grab one at random and hand it over. It will always be the exact fare.
During all police investigations, it will be necessary to visit a strip club at least once.
All grocery shopping bags contain at least one stick of French bread.
A single match will be sufficient to light up a room the size of a football stadium.
One man shooting at 20 men has a better chance of killing them all than 20 men firing at one.
When they are alone, all foreigners prefer to speak English to each other.
It is always possible to park directly outside the building you are visiting.
A detective can only solve a case once he has been suspended from duty.
All bombs are fitted with electronic timing devices with large red readouts so you know exactly when they're going to go off.

Das alles stört relativ wenig, wenn man sich irgendeinen Big Budget Actionklamauk ansieht. Geht es aber um eine ernst gemeinte Dramaserie, wird die Sache schon heikler.
THE 4400 ist Ira Steven Behrs nächste große SF/Fantasy-Serie nach STAR TREK: DEEP SPACE NINE. Dafür hat er seine zwei Kumpel aus alten Trek-Tagen, Robert Hewitt Wolfe und René Echevarria, mit an Bord geholt. Ronald D. Moore, wahrscheinlich der beste der früheren STAR TREK staff writers, hat in der Zwischenzeit CARNIVÀLE produziert/geschrieben und ist jetzt bei BATTLESTAR GALACTICA, der sicherlich besten SF Serie im Moment. Michael Piller, der die dritte Staffel von STAR TREK: THE NEXT GENERATION fast im Alleingang gerettet und das ganze Franchise nachhaltig beeinflusst hat, ist übrigens am 1. November 2005 an Krebs gestorben. Aber nun zurück zu THE 4400. Als ehemaliger STAR TREK Fan müsste ich also der Serie wohlwollend gegenüberstehen.
Die Grundidee ist ja ganz nett: 4400 von Aliens in den letzten 50 Jahren entführte Menschen werden auf einen Schlag zur Erde zurückgebracht. Bald schon stellt sich heraus, dass sie übernatürliche Fähigkeiten besitzen. Die Serie konzentriert sich weniger auf große Themen wie Invasion oder Weltverschwörung, sondern auf den Umgang der Familien mit ihren totgeglaubten, aber dann doch zurückgekehrten Verwandten. Dieses Format kommt so gut an, dass im Frühjahr die dritte Staffel in Produktion geht. Es handelt sich hier also um eine der erfolgreichsten der neuen SF/Fantasy/Mystery-Serien.
Und dennoch krankt die Serie an Versatzstücken, die zumindest so alt wie die Mutter aller modernen Mystery-Serien selbst sind: AKTE X. Schon wieder geht es um außerirdische Entführungen, übermenschliche Fähigkeiten und zwei FBI-Agenten, deren Privatleben im Argen liegt und die die Fälle lösen müssen. Bei 24 hat man sich einfach CTU ausgeborgt, das hier Homeland Security oder später dann National Threat Assessment Command genannt wird. Dazu kommen dann noch die ganzen üblichen Klischees wie der prototypische Boss, das mysteriöse kleine Mädchen, die wohlwollenden Adoptiveltern, die dann mit dem Kind nicht fertig werden, die Highschool mit ihren üblichen Konflikten, dass sich alles verändert hat, seit man das letzte Mal da war etc.
Am schlimmsten ist aber die Inszenierung von inneren Befindlichkeiten. Ständig düdelt Musik im Hintergrund, die dich auf den emotionalen Gehalt der Szene einstimmen soll. Was die Charaktere am meisten vermissen, wird ihnen ständig vor Augen geführt, damit auch noch der letzte Vollidiot begreift, worum es gerade geht. Der jugendliche Heimkehrer darf seinen Frust rausbrüllen: "SCREW YOU, UNCLE TOMMY!", Lily, deren Mann wieder geheiratet hat und ihr die gemeinsame Tochter vorenthält, darf einsam und traurig durch die Straßen gehen, und Richard, den man nur mehr als Black Jesus bezeichnen kann, wird von einem Penner aus seinem ehemaligen Stadtviertel vertrieben, das ohnehin in Ruinen steht.
Ich werde durch solche Banalitäten in der Erzählweise immer aus der Serienwelt herausgerissen und beginne dann, das ganze ironisch zu sehen. Besonders die erste Hälfte des Pilotfilms war für mich an vielen Stellen unfreiwillig komisch. Dabei machen die Schauspieler noch das beste aus dem teilweise mißglückten Drehbuch. Brauchen die Amerikaner wirklich diese ganzen üblen Klischees um in Sekundenbruchteilen in der Lage zu sein, eine Situation zu erfassen? Es handelt sich dabei nämlich um optisches Fast Food: es rutscht leicht runter, füllt den Magen und ist gleich wieder vergessen. Dabei gibt es doch so viele Serien, die mit diesem Blödsinn radikal aufräumen (SIX FEET UNDER, CARNIVÀLE, BATTLESTAR GALACTICA) oder ironisch damit spielen (LOST, THE SOPRANOS). Ich glaube, dass man als alter STAR TREK Fan THE 4400 noch eine Chance geben soll, oba bled spün derfn si si ned.

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Samstag, 10. Dezember 2005

Autos

Liebe Autisten!

Selbst ist der Mann bzw. die Frau - autonom, also den eigenen Gesetzen folgend, aber auch selbstgemacht, jemand der etwas aus sich selbst macht, aber auch sich selbst macht, a self-made man, wie die Amerikaner anerkennend sagen, ein Macher, ein Homo Faber des selbst, einer der Hand anlegt, der sich selbst neu gestaltet und definiert. Madonna, die Gottesmutter des Makeup und Makeover, findet und erfindet sich selbst auch unentwegt neu.
Im Endeffekt ist nur auf sich selbst Verlass. "Wenn man nicht alles selbst macht!" hört man den frustrierten Zeitgenossen oft sagen, der aus Erfahrung weiß, dass nur er selbst die Aufgabe zufriendenstellend erledigen kann, denn die Mitarbeiter sind zwar liebe Menschen, aber bei weitem nicht perfekt. Man muss auch schauen, wo man bleibt. Du musst ein Schwein sein in dieser Welt, denn geschenkt wird einem nichts. Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.
Nach dem geo- und heliozentrischen nun das egozentrische Weltbild. Alles Denken kreist nur um einen selbst. Und das zu Recht. Die eigene Größe bedarf nämlich intensiver Beschäftigung und als Schöpfer seines eigenen Kosmos ist man zwangsläufig der Anfang und das Ende von allem. In diesem geschlossenen, autarken und selbstreferenziellen System ist man das Maß aller Dinge. Man bedauert die mangelnde Empathie und Flexibilität der Zeitgenossen, die sich viel zu wenig für einen interessieren und sich nur unwillig nach einem richten. Betritt man einen Raum merkt man deutlich, dass das Gespräch unterbrochen wird, denn es wurde wieder einmal von einem geredet. Verlässt man den Raum, hört man, wie hinter einem getuschelt wird. Genau genommen bezieht sich jede Konversation auf einen selbst und oft ist es schwer herauszufinden, worin nun genau die Anspielung besteht.
Der moderne Autist findet seine symbolische Entsprechung im Prestigeobjekt Auto. Dieses Automobile oder sich (wie von) selbst bewegende Objekt geht auf die selbe griechische Wurzel zurück: autos - selbst. Der Autist oder krankhaft selbstbezogene fährt nun im Mercedes selbst im Selbst, im sich von selbst bewegenden Objekt, alleine durch die Lande. Das Auto ist wie sein Besitzer selbst: großteils Oberfläche und sehr wenig Innenleben - eine Maschine, die irgendwie von selbst läuft. Das Auto hat vor allem eines in sich: Leere. Dieses Vakuum füllt der Mensch mit sich und seinen Dingen.
Im Zeitalter des Selbst verwundert es deshalb auch nicht, wenn dieses kostbare Gut von allen gesucht wird. Denn obwohl ständig davon die Rede ist, leben die meisten auf Entzug. Ihnen ist das Selbst abhanden gekommen. Man fühlt sich wie eine leere Hülle und erhebt die Selbstfindung zum zentralen Element des eigenen Lebens. Die (Er)lösung kann nicht von außen kommen, denn das wäre ja ein christlicher Ansatz. Nein, man muss sein Leben selbst in den Griff bekommen - DIY, make-up, make-over, make it happen. Just do it! Mit Bergen von Selbsthilfebüchern ("So lerne ich mich selbst zu lieben", "Nie mehr deprimiert", "Ich schenke mir ein neues Leben" etc.) geht man gründlich an die Sache ran. Denn Oberflächenkosmetik darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Oder auch nicht.
Da kommt einem die Patchworkidentität wie gerufen. Wer sagt denn, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile sein muss? Ich picke mir einfach die Elemente aus dem globalen Angebot raus, die mir zusagen, identifiziere mich mit ihnen und bin dann meine Interessen und Hobbys.
"Wer bist du?" - "Ich spiele Gitarre, lese englische Literatur, esse gerne Eis, schaue fern, schreibe Tagebuch, etc."
Moooooment! Ich bin doch mehr als die Summe meiner Hobbys, verdammt noch mal! I'm just more than you can see, obviously. Ich bin doch, ich habe doch, meine Eltern haben sich doch scheiden lassen als ich 12 war und dann der schwere Autounfall und der Tod der Oma. Ist das nichts? Das prägt doch einen. Da wird man doch erst man selbst durch diese Erlebnisse. Erst durch das persönliche Erleben, durch meine individuelle Lebensgeschichte zeichne ich mich aus und von den anderen ab.
Ist eine Lebensgeschichte nicht vor allem eine Geschichte?
Willst du jetzt sagen, dass ich das alles erfunden habe?
Nein, nein, deine Eltern sind sicher geschieden, du hattest auch einen Autounfall und deine Oma ist tot - aber glaubst du nicht, dass es bei der Fülle an Erlebnissen und Erfahrungen möglich ist, dass du nachträglich Ereignissen eine besondere Bedeutung beimisst und logische Verknüpfungen findest, wo vielleicht keine waren? Alleine durch die Auswahl, durch die Schnittfassung deiner Lebensgeschichte auf Spielfilmlänge, geht doch zwangsläufig sehr viel verloren, das aber auch wichtig wäre.
Wenn ich nicht meine Hobbys bin und meine Lebensgeschichte, dann bin ich zumindest mein öffentliches Erscheinungsbild. Die Leute erkennen mich doch auf der Straße und wissen doch wer ich bin, wenn ich es schon selbst nicht weiß.
Das bringt uns natürlich zurück zur Oberfläche: Auto, Wohnung, Kleidung, Haarschnitt, Gestik, Mimik, Stimme, etc. First impressions. Bist das du?
Natürlich nicht. Habe ich doch schon längst gesagt: I'm just more than you can see. Vielleicht bin ich ja alles zusammen: meine geschiedenen Eltern, der Stoppelbart, meine Stimme, mein Lieblingsfilm, der Autounfall, meine Angst, dass es für manche Dinge im Leben zu spät ist, der Tod der Oma, Erdbeereis, die alte blaue Jacke, die ich so gerne anziehe, meine Tagebücher, der erste Urlaub in Italien, Michaela, meine CDs, Rotwein, meine Geschwister, die Pickel auf der Stirn, ...
Und siehst du da irgendwo einen Zusammenhang zwischen all diesen Dingen?
Ja, ich selbst halte das alles zusammen. Das bin ich. Ich selbst.

Montag, 5. Dezember 2005

Gilmore Girls

Liebe Eskapisten!

Heute nehme ich mich des kontroversiellsten Themas überhaupt an. Die Rede ist natürlich nicht von Schorsch "Double Trouble" Bush und der US-amerikanischen Außenpolitik oder der Rückkehr der Atomkraft in der Europäischen Union. Nein, viel schlimmer. Heute wage ich es eine heilige Kuh zu schlachten.
Als ich heute früh nichtsahnend den Fernseher einschaltete, fing gerade GILMORE GIRLS an. Na gut, dachte ich mir, gibst du halt den hollow stars eine Chance. Es lief gerade "Das perfekte Paar" oder "How Many Kropogs to Cape Cod?", die 20. Folge der 5. Staffel. Da ich die wahren Fans nicht mit einer Inhaltsabgabe langweilen will, hier nur die wichtigsten Punkte:

Rory ist total glücklich mit ihrem Freund Logan Huntzberger und ihre WG Genossin ist total glücklich mit ihrem Freund. Beide freuen sich, dass es mit ihren Freunden so gut läuft. Rory darf bei Logans Papa ein Praktikum machen und ist sich total unsicher: Was soll sie anziehen? Was soll sie sagen? Da der Papa so beschäftigt ist, fällt die Rory gar nicht auf. Da ruft sie ihren Freund Logan an und der sagt ihr, dass der Papa gerne entkoffeinierten Kaffee trinkt. Also holt sie ihm einen Kaffee und schon hat sie seine Aufmerksamkeit. Der Plan hat funktioniert!
Oma Emily Gilmore möchte den Freund der Enkelin kennenlernen und lädt die beiden zum Essen ein. Rory ruft Logan an und bereitet ihn seelisch auf das schreckliche Abendessen vor. Sie wollte das gar nicht, jetzt, wo doch alles so gut läuft etc. Lorelai will auch unbedingt dabei sein und Emily stimmt nur widerwillig zu. Beim Essen reden die Großeltern nur vom Heiraten und das junge Paar tritt schnell die Flucht an. Am Schluss beschwert sich Lorelai bei ihren Eltern, dass sie völlig verblendet sind und es keine perfekten Menschen gibt.

Nun zu meinen Fragen und Anmerkungen:

1) Die Großeltern sind offensichtlich Mitglieder des reaktionär-republikanischen Geldadels. Was hat eine fast 40-jährige Frau überhaupt bei ihren Eltern verloren, noch dazu wenn diese ideologisch aus einem ganz anderen Eck kommen? Lorelai tritt immer als unkonventionelle Rebellin auf, fährt aber ständig zu ihrer tyrannischen Mutter und läßt sich von dieser, pardon my French, auf den Kopf scheißen. Wenn sie ihren Eltern dann am Schluss die Meinung sagt, muss ich mir denken: Jetzt die Klappe groß aufreißen, aber den ganzen Abend brav bei den Oldies rumhängen.

2) Wenn Lorelai und Sookie, die beiden Hotelbesitzerinnen, in einem feudalen Ambiente auf Kissen ruhend drei Köche herumdirigieren und ständig davon schwafeln, wie schlecht es ihnen nicht geht und wie wenig Geld sie nicht hätten, dann stimmt doch irgendetwas nicht.

3) Die Figuren wären mit ihrer Eindimensionalität in einer Sitcom besser aufgehoben. Ich persönlich sehe zwischen erster und fünfter Staffel keinen Unterschied. Gibt es in der Serie so etwas ähnliches wie Charakterentwicklung? Da hat sich ja bei FRIENDS mehr getan und das ist nun wirklich eine Sitcom.
Die alte Emily ist noch immer ein Tyrann, Lorelai ist noch immer unkonventionell und hat ein paar witzige Sprüche auf Lager, Rory versucht noch immer einen Ausgleich zwischen Mutter, Großmutter und Schule bzw. Studium zu finden.
Thematisch dreht sich alles nur um Oberflächlichkeiten: Abendessen, Golf spielen, Kleidung, Yale, Mode, Manieren, Geld, Häuser, den Anschein bewahren etc. Ich habe große Schwierigkeiten mich mit irgendeiner Figur zu identifizieren oder mich zumindest in eine hineinzuversetzen, weil sie absolut keinen Tiefgang haben. Oder anders formuliert: Mich läßt die Serie emotional total kalt.

4) Warum gibt es keine Schwarzen, Latinos, Chinesen oder sonst irgendeine andere Hautfarbe oder Kultur in Stars Hollow? Irgendeine Japanerin läuft manchmal durchs Bild, aber das war's dann auch schon wieder.

Ich bin, wie man unschwer erkennen kann, ein Anhänger der Theorie, dass eine Fernsehserie ihre Figuren ordentlich treten muss, damit sie funktioniert: 24, LOST, SIX FEET UNDER, CARNIVALE, BATTLESTAR GALACTICA etc. Andererseits gehört GILMORE GIRLS nicht in die Sparte Drama, sondern Light Entertainment, denn für eine Comedy ist die Serie zu wenig lustig.

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Samstag, 3. Dezember 2005

FSK

Liebe Maßlose!

Als ich noch ein kleiner Bubsi war, also lange bevor es CDs, PCs, MP3, HDTV, WWW, RTL oder sonst irgendetwas gab (Kriegsgeneration!), hatte ich einen großen Traum. Andere wollten Nuklearphysiker, Zirkusferd oder Müllmann werden, aber mir ging nur eine Sache durch bzw. in den Kopf: Geld genug um rund um die Uhr Eis essen zu können. Man findet erst wesentlich später heraus, dass man einen Liter Eis nur dann mühelos verinnerlichen kann, wenn dieser sportlichen Spitzenleistung ein monatelanges Aufbautraining vorangeht. Habe ich mir jedenfalls sagen lassen.
Das Maßlose übt nicht nur auf Kinder, sondern auch auf Erwachsene eine grenzenlose Faszination aus. Die Guiness World Records sind eine eindrucksvolle Demonstration, welchen hohen Unterhaltungs- bzw. Stellenwert die Überschreitung rationaler Maßtäbe in unserer westlichen Gesellschaft einnimmt. Der Spitzensport gehört da natürlich auch dazu. Was macht der dekadente Reiche mit seiner Kohle? Er zieht sich auf ein Hotelzimmer mit Koks und Prostituierten zurück. So geschehen beim Maler und Kunstprofessor Jörg Immendorff im August 2003 (21,6 Gramm, davon 6,5 Gramm reines Kokain + 9 Prostituierte; gestand im Prozess 26 weitere Parties ein) oder bei Michel Friedmann im Juni desselben Jahres, der da wesentlich bescheidener war, als Rechtsanwalt, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und Rechtsanwalt trotzdem für mehr Furore sorgte. Wer träumt nicht von der großen Orgie, ein Wort, das wir zunehmend für jeden Exzess verwenden, sei es Kopieren oder Putzen?

Das Maßlose spielt aber auch in unserem Alltag eine wesentlich größere Rolle als wir gerne zugeben würden:

1) Der neue Apple iPod mit 60 GB (5. Generation) kann 15.000 Lieder oder ca. 1000 Alben speichern. Bei einer durchschnittlichen Laufzeit von 15 Stunden (ca. 15 Alben) muss ich 67 Mal aufladen und 1000 Stunden Musik hören, bis ich jedes Lied auf der Festplatte einmal durch habe. Bei iTunes werden übrigens 1,8 Millionen Songs zum Download angeboten.

2) Die externe 300 GB Festplatte füllen manche schnell mal mit Fernsehserien und Filmen aus dem Internet an. Da sind noch gar nicht die Filme und Serien mitgerechnet, die regulär im Fersehen laufen oder als DVD-Box herumstehen.

3) An manchen Tagen geht es 16 Stunden durch, an anderen ist der Blick aus dem Fenster schon zu viel der Mühe. Da zieht man dann den Vorhang zu und verbringt ein Wochenende vor der Glotze.

4) An manchen Tagen reichen ein Apfel und ein Vollkornweckerl, an anderen isst man am Abend noch eine Packung Soletti, weil es nach dem Plüschbärfrühstück, dem Schnitzel, dem Eis, dem Kaffee, den Keksen, der Schokolade, den drei Bier und dem Kebab auf die paar Stangerl auch nicht mehr drauf ankommt.

5) Bei Amazon oder Play wirft man dann doch noch die zwei, drei CDs oder DVDs in den Warenkorb, weil bei 100 Euro Bestellvolumen diese 30 Euro das Kraut auch nicht mehr fett machen.

6) Wenn man um 1 Uhr Früh die vierte Episode 24 in Folge gesehen hat, sieht man sich halt noch schnell zwei weitere an, denn dann hat man wenigstens ein Viertel der ganzen Staffel durch.

Deshalb brauche ich dringend die FSK oder Freiwillige Selbstkontrolle, weil die kleinen Maßlosigkeiten des Alltags sich nicht nur summieren, sondern sich auch gehörig auf das Geldbörserl, die Gesundheit und die Fitness schlagen.

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