Mittwoch, 25. April 2007

Gewinner des Jahres 2007

Liebe Super-Gewinner!

Vor einigen Wochen flatterte meinem Vater folgender Brief ins Haus, den ich hier gerne unverändert wiedergeben möchte. [Ich kann mir natürlich nicht ein paar Kommentare in Klammern verkneifen.]

Reader's Digest Preisvergabe-Büro

Sehr geehrter Herr XXX,

sind Sie sicher, dass Sie wirklich 650.000 ,- Euro gewinnen wollen?

[650.000 ,- Euro ist natürlich schon ein bisschen mikrig. Bei der Millionenshow schmeißt einem der Armin Assinger gleich zig Tausender hinterher, wenn man die Antwort weiß auf ...

Welchen der folgenden Bären kann man sich zum Frühstück aufs Brot schmieren?

(a) Eisbär
(b) Braunbär
(c) Erdbär
(d) Feuerwehr

Später wird es dann natürlich schwieriger:

Welche Blutgruppe hatte Hitlers drittliebster Schäferhund?

(a) A
(b) B
(c) AIDS
(d) Type O Negative

Aber nun zurück zur sensationellen Gewinnchance!]

"Seltsame Frage", mögen Sie denken, und "Natürlich will ich 650.000 ,- Euro gewinnen", wird Ihre spontane Antwort sein. Freilich habe ich inzwischen viel Erfahrung mit Gewinnern (und allerdings auch mit Menschen, die die vielleicht größte Chance ihres Lebens fahrlässig verpasst haben). Daher kommt meine Frage nicht von ungefähr, und ich erkläre Ihnen auch gleich näher, warum.

[Ja, der Mensch ist oft so dumm. Ich selbst sitze manchmal beim Frühstück und denke mir: "Willst du jetzt noch ein Kipferl haben oder doch lieber 650.000 ,- Euro?" In meinem jugendlichen Leichtsinn entscheide ich mich dann viel zu oft für das Kipferl. Dabei liegt das Geld doch auf der Straße. Wir müssen nur richtig wollen, um zu den Gewinnern zu gehören. Wir müssen mit den Adlern fliegen lernen und dürfen nicht mehr mit den Hendeln picken.]

Doch zunächst zu einigen unabweisbaren Fakten, wie sie sich aus den mir vorliegenden Unterlagen ergeben, Herr XXX:

1. Sie wurden von den zuständigen - und von dritter Seite nicht beeinflussbaren - Stellen nach sorgfältiger Prüfung für den jetzt neu zu vergebenden Titel
"Gewinner des Jahres 2007"
vorgeschlagen. Damit gehören auch Sie heute zum Kreis derer, die aus dem "80. GRAND PRIX FINALE" als Hauptgewinner hervorgehen könnten.

[Bei diesem Informationsschwall tun sich natürlich gleich eine Reihe von Fragen auf:

1. Welche "Unterlagen" liegen dem guten Ulrich Forschner, seines Zeichens Leiter des Preisvergabe-Büros, vor? Vielleicht liegt ja die Datenbank des Reader's Digest Verlags auf dem selben Server wir Interpol und es haben sich ein paar Synergieeffekte ergeben.
2. Mehrere zuständige Stellen haben also nach reiflicher Überlegung meinen Vater für den neuen Titel "Gewinner des Jahres 2007" vorgeschlagen. Liegt denen eine mir unbekannte Bewerbung meines alten Herrn vor? Wenn ja, wofür? Welche Daten wurden da sorgfältig geprüft?
3. Muss mein Vater jetzt beim 80. Grand Prix der Volksmusik mit Andy Borg auftreten und "Herzilein" trällern? Da decken 650.000 ,- Euro nicht einmal die unmittelbaren Folgekosten ab.]

2. Nur sie allein nehmen mit der Nummer 11 0846-762 auf Ihrem Scheck an der Ermittlung des Hauptgewinners von 500.000,- Euro teil. Entspricht diese Nummer der Gewinn-Nummer, erhöhen wir Ihren Hauptgewinn auf den
Super-Gewinn von vollen 650.000,- Euro.
Voraussetzung: Sie legen Ihren Teilnahme-Scheck bis spätestens (!) 30. April 2007, 24 Uhr zur Ermittlung des Gewinners vor.

[Das ist ja cool. Mein Vater nimmt als einziger mit seiner Nummer am Gewinnspiel teil. Wenn die Gewinn-Nummer passt, kriegt er 650.000,- Euro, wenn nicht, nur 500.000,-. Da muss er sich im Notfall eben mit dem Trostpreis zufrieden geben.]

3. In diesem Fall werden Sie mit Ihrem Namen
XXX aus Linz
in unser Goldenes Buch der "Gewinner des Jahres" aufgenommen. Ebenso wird dann der Gewinn-Scheck auf Ihren Namen ausgestellt und Ihnen auf der Gewinnerparty in Stuttgart überreicht.

[Bist du deppert! Wer träumt nicht sein ganzes Leben lang davon im Goldenen Buch der Gewinner des Jahres eingetragen zu werden. Dad, I am so proud of you!]

So weit, so gut und vergleichsweise einfach, Herr XXX.
Aber glauben Sie mir: Für so manchen, der es in der Vergangenheit so weit wie Sie gebracht hat, begannen exakt an diesem Punkt die Schwierigkeiten. Sei es, weil diese Menschen ihrem Glück einfach nicht getraut haben. Sei es, dass es eine Sache ist, von einem Gewinn zu träumen, eine andere aber, dieser Chance konkret nah zu sein. Andere können es sich schlicht nicht vorstellen, einmal tatsächlich persönlich einen Scheck über 650.000,- Euro in Händen zu halten. Und viele - das ist fast am schlimmsten - versäumen es einfach, rechtzeitig zu antworten ...

[Ja, es ist ein Jammer. So viele geben 10 Meter vor dem Ziel einfach auf. Wer nur träumt, der Chance aber nie konkret nahe kommen will, wird eben nie gewinnen. Wenn man schon einmal 650.000,- Euro geschenkt bekommt und diese nicht annimmt, ist "Schwierigkeiten" gar kein Ausdruck! Wenn die ständige Begleiterin davon erfährt und das Freizeitbeil bzw. die Streitaxt auspackt, dann Gnade dir Gott!]

Lassen Sie es nicht dazu kommen, Herr XXX!
Fassen Sie sich ein Herz, und senden Sie Ihren Teilnahme-Scheck noch heute zur Ermittlung des Super-Gewinners zurück. Und stellen Sie sich einfach schon einmal vor, Sie hielten den Gewinn-Scheck in Händen ... und wären damit - einfach so - um 650.000,- Euro reicher. Ist das nicht ein Gedanke, an den man sich eben doch gewöhnen könnte? Handeln Sie noch heute - es liegt mir persönlich viel daran, dass gerade Sie diese Chance nutzen, Herr XXX!

Mit freundlichen Grüßen,
Ulrich Forschner, Leiter Preisvergabe-Büro

[So, jetzt machen wir zuerst einmal alle die Augen zu ... Seid ganz entspannt und denkt an einen wunderschönen Strand, wie der Wind durch eure Haare streift ... Jetzt streckt eure Hände aus und fühlt den Scheck in euren Händen ... 650.000,- Euro! ... Ich will jetzt euer Siegerlächeln sehen ... Fühlt wie unendliche und nie versiegende Freude euren Körper durchströmt ... Ihr habt es geschafft! ... Ab jetzt gehört ihr zu den Adlern!]

Übrigens: Mit Ihrer Nominierung zum "Gewinner des Jahres" sind selbstverständlich weitere attraktive Gewinnchancen verbunden, die Sie unabhängig von Ihrer Super-Gewinnchance erhalten. Es handelt sich dabei um insgesamt über 4.000 Preise im Gesamtwert von mehreren hundertausend Euro. Die Preisliste auf der Rückseite Ihres Schecks informiert Sie ausführlich. Über 4.000 weitere Gründe also, unverzüglich zu antworten - tun Sie es noch heute!

[Also doch mehr als eine Million! Meine ursprünglichen Zweifel waren völlig fehl am Platz. Ich sehe den Gewinn, ich spüre den Scheck, ich bin der Chance konkret nahe, ich bin ein Adler, ich gehe zur Post ... Scheiße, jetzt habe ich den Einsendeschluss verpasst! Uli Forschner hatte Recht: Manche sind einfach zu blöd fürs Siegen.]

Freitag, 20. April 2007

Schuld

Liebe Leidende!

Wie sagte unser Lieblingsmassenmörder Cho Seung-Hui so schön? "You forced me into a corner and gave me only one option. The decision was yours. Now you have blood on your hands that will never wash off." Wie Mr Cho eindrucksvoll demonstriert hat, führt Schuld als fundamentale Denkkategorie zumindest in den Stillstand, wenn nicht in die Katastrophe. Die Zuweisung von Schuld trägt nämlich nicht zu Lösungen bei, sondern verhärtet nur die Fronten. Schuld ist keine objektive Größe, wie man vielleicht vermuten könnte, sondern entsteht erst aus subjektiver Leiderfahrung. Je größer der eigene Schmerz, desto mehr Schuld lädt der Verursacher auf sich. In Mr Chos Worten:

"You just loved crucifying me. You loved inducing cancer in my head, terrorizing my heart and ripping my soul all the time."
"Do you know what it feels like to be humiliated and impaled upon a cross and left to bleed to death for your amusement? You have never felt a single ounce of pain your whole life."

Die eigene Existenz wird in extremen Fällen von Leid zu einem Mahnmal exorbitanter Ungerechtigkeit und somit eines Verbrechens an der Menschheit. Mein Lebensinhalt rezudiert sich auf einen Vorwurf, den ich in alle Welt hinaustragen möchte. Dabei handle ich nicht aus eigenem Interesse oder gar aus Verzweiflung, sondern im Dienst der gesamten Menschheit:

"I didn’t have to do this. I could have left, I could have fled, but no, I will no longer run. If not for me, for my children, for my brothers and sisters . . . I did it for them."

Da es keinen Sinn hat alleine in seinem Kämmerlein vor sich hin zu leiden, müssen irgendwann auch Taten folgen, um das eigene Leiden eindrucksvoll unter Beweis zu stellen:

"When the time came I did it, I had to."

Schulddenken ist in erster Linie ein Eingeständnis von Dummheit bzw. Schwäche. Wenn die Stammtischbrüder in fröhlicher Runde behaupten, dass die Regierung an allem Schuld sei, trifft ersteres zu, wenn Mr Cho die Gesellschaft für sein Leid verantwortlich macht, zweiteres. Er war von sich aus zu schwach, sein Leben in den Griff zu bekommen.

Interessanterweise basieren die ersten Reaktionen auf die Bluttat wieder auf Schulddenken: Professoren, Mitschüler, Psychologen, Polizisten etc. sind alle schuld, weil sie die Anzeichen hätten erkennen müssen. Wenn bei uns wieder einmal die Bildungskrise ausbricht, haben auch das Fernsehen, die Computerspiele und weiß Gott noch wer und was alles schuld. Schuld schützt die Dummen vor zu viel Denken.

Die Leidenden brauchen Schuld aus psychohygienischen Gründen. Dem Schmerz wird Sinn verliehen, indem er von anderen verursacht wird. Man leidet nicht mehr an sich, sondern an den anderen. Jeder kennt aus seinem sozialen Umfeld bzw. der Familie Menschen, die häufig von Schuld reden - der eigenen oder der fremden. In diesen Fällen ist bereits eine ganze Menge schief gelaufen.

Schuldzuweisungen sind nämlich ein völlig unbrauchbares Mittel, um irgendetwas zu bewegen. Wenn man einmal genau darüber nachdenkt, geht es bei Gerichtsverhandlungen letzten Endes nicht um Schuldzuweisungen. Das ist nur der Ausgangspunkt. In Wirklichkeit soll eine einvernehmliche Lösung gefunden werden, mit der alle WEITERLEBEN können. Dieses Weiterleben ist der entscheidende Punkt. Eine Eheberatung hat auch nur dann Sinn, wenn nach den Schuldzuweisungen Möglichkeiten gefunden werden, um die Ehe wieder in Schwung zu kriegen.

Eine Gesellschaft kann nur dann funktionieren, wenn sie über Instrumentarien verfügt, ihre Leidenden anzunehmen. Ob das die Familie, die Fürsorge, die Religion, die Psychoanalyse oder der Sportverein löst, ist eigentlich unwichtig.

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