Donnerstag, 22. März 2007

Widerschein

Liebe Ästheten!

"Sometimes there's so much beauty in the world I feel like I can't take it... and my heart is going to cave in." Dieser Satz ist vielleicht der bemerkenswerteste in AMERICAN BEAUTY (1999), einem Film der ohnehin mehrere merk-würdige Momente aufzuweisen hat. Mich interessiert hier vor allem die körperliche Reaktion, die vom unmittelbaren, sinnlichen Erleben von Schönheit ausgelöst wird.
Die tragische Ironie in FAUST ist ja gerade, dass er trotz diabolischer Hilfe nie im Stande ist zum Augenblicke "Verweile doch, Du bist so schön!" zu sagen. Das scheint das Schicksal vieler Westeuropäer zu sein, die im Zustand des Komparativs leben. Sie sind zwar schöner, reicher, sportlicher, dynamischer, erfolgreicher und insgesamt besser als viele andere, aber das Damoklesschwert des Superlativs schwebt ewig über ihnen: die Decke, nach der man sich streckt, ist nie erreicht. Wird man gelegentlich mit einer euphorischen Beschreibung eines perfekten Augenblicks oder Urlaubs konfrontiert, entlarven wir, wenn auch nur für uns selbst, das Erzählte geschwind als grobe Übertreibung. Das perfekte Glück darf es nicht geben. Wer trotzdem vermeint, seiner teilhaftig geworden zu sein, irrt mit großer Sicherheit aufs Gröbste oder sollte anstandshalber gefälligst die Klappe halten. Das Glück des anderen hat für viele etwas Obszönes.
Gerät der Westeuropäer in die Gefahr einen perfekten Moment zu erleben, ergreift er sofort geeignete Maßnahmen, um sich davon gekonnt zu distanzieren. Er zückt instinktiv seine Kamera oder sein Handy, um das Schöne einzufangen und für die Ewigkeit zu erhalten. Somit verwandelt er sich sofort vom überwältigten, passiven Genießer eines unerwarteten Gefühlsausbruchs in den rational agierenden Regisseur eines Dokumentarbeitrags, dessen Ziel es ist Schönheit technisch zu konservieren.
Emotional leben wir großteils von solchen Konserven, die uns in in Buch-, CD- oder Filmform Schönheit aufbereiten, um sie konsumierbar zu machen. Die ästhetische Qualität des Kunstwerks ist aber nicht nur eine sekundäre Erfahrung. In DER AUFSTAND GEGEN DIE SEKUNDÄRE WELT. BEMERKUNGEN ZU EINER ÄSTHETIK DER ANWESENHEIT (München: Hanser, 1999) verteidigt der Essenzialist Botho Strauß gerade das Kunstwerk als Erlebensmittel des Unmittelbaren:

"Die Unangemessenheit der sprachlichen Explikation, die Armut der "Antwort", die wir auf die Fülle des Empfangs geben, wenn wir zum Beispiel aufmerksam Musik hören, ist eine erste Erfahrung des Unmittelbaren und der Andersheit, die im Kunstwerk Asyl genießen. Das unerklärlich Schöne verbleibt in der complicatio, in der Eingefaßtheit aller Bedeutungen, es wir unverletzt, unenthüllt erlebt. Es bringt uns in Berührung "mit dem Stoff, der unerträumt ist in unserer Stofflichkeit". Weder ist es ein utopisches Humanum noch ein höherer ästhetischer Gemütsreflex, noch überhaupt etwas vom Menschen Vermochtes, das sich in der Schönheit verbirgt. Vielmehr klingt in ihr an oder schimmert durch: Realpräsenz, Anwesenheit, und zwar unabhängig davon, welchen historischen oder biografischen Interessen sich die Entstehung eines Romans oder eines Gemäldes verdankt. Ob man einem Kunstwerk begnet sei, meinte der metaphysisch nicht leicht erregbare Paul Válery, erkenne man daran, ob es einen im Zustand der Inspiriertheit zurückläßt.
Wir antworten mit Widerschein." (S. 50)

Das klingt jetzt widersprüchlich: Schönheit wird ja eindeutig als ästhetische Komponente des Kunstwerks, also des künstlich Geschaffenen, vermittelt und ist nicht unmittelbar, also ohne fremde Vermittlungsarbeit, erfahrbar. Strauß aber meint, dass im starren Käfig der Form das Schöne jenseits von Sprache und Vermittlungstätigkeit erlebbar bleibt.
Wenn Elizabeth Bishop ihre Dichterkollegin in "Invitation to Miss Marianne Moore" auffordert, "from Brooklyn, over the Brooklyn Bridge, on this fine morning" nach Manhattan zu kommen, dann spricht sie in einer Strophe Moores Fähigkeit an, Grammatik, also die starre Form, zum Leuchten zu bringen:

With dynasties of negative constructions
darkening and dying around you,
with grammar that suddenly turns and shines
like flocks of sandpipers flying,
please come flying.

Wenn Wittgenstein meint "Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.", ignoriert er den festen Glauben vieler Künstler, dass gerade jenseits der Sprache, der Logik und somit des Erklärbaren die Schönheit im Kunstwerk erfahrbar wird.

Zum Abschluss noch einen Augenblick, zu dem ich "Verweile doch, Du bist so schön!" sagte: Als ich letztes Jahr beim Konzert der Madagascar Allstars in London war, die übrigens übermorgen in Wien auftreten, kam eine so phantastische Stimmung auf, dass es Musiker und Publikum gleichermaßen mitgerissen hat. Bis dahin wusste ich nicht wie es ist, wenn man vor lauter erlebter Schönheit so ausgefüllt ist, dass man weinen könnte, um nicht überzugehen. Jetzt mögen mir manche grobe Übertreibung vorwerfen, aber ich bin trotzdem froh, dass ich das erleben durfte.

Donnerstag, 15. März 2007

I love to hate you / I hate to love you

Liebe Haßliebende!

Die ersten paar Male kriegt man es noch gar nicht mit: "Diese Anna ist eine saublöde Tussi! So eine arrogante, selbstverliebte, depperte Schnepfe! Georg hat auch schon gesagt, dass die jeder doof findet." Doch wenn ein Bekannter, nennen wir ihn Michael, zum wiederholten Male über eine Frau herzieht, die gerade so gar nicht ins Gespräch passt, dann wundert man sich doch, wo denn diese leicht subjektiv gefärbte Einschätzung wohl herkommen mag bzw. warum die Anna, um Elvis zu paraphrasieren, always on his mind ist. Ist sie die heimliche Traumfrau, die sich einst gegen den lieben Michael entschieden hat? Man weiß ja nicht.
Dann gibt es da die eine, die jedes Wochenende nach Hause zu den Eltern fährt, um dann peinlichst genau zu berichten, wie verkalkt und begriffsstutzig die Alten schon sind und wie sehr sie unter dieser bedrückenden Atmosphäre leidet. Ein dritter hält alle Studenten für faule Säcke, die endlich, wie er, einer ordentlichen Arbeit nachgehen sollten und verbringt dann seine halbe Freizeit auf Studentenfesten oder sucht gezielt die Nähe dieser verachtenswerten Sozialschmarotzer.
Es scheint ein psychologischer Selbstschutzmechanismus zu sein, dass man all das schlechtredet, was man nicht haben kann, von dem man sich nicht lösen kann, worin man gescheitert ist oder was man sich nicht zutraut. "Anna ist eine dumme Nuss!" geht dem Michael viel leichter über die Lippen als "Ich bin schon seit Monaten in sie verliebt. Sie hat mich noch nicht einmal richtig wahrgenommen und ich weiß genau, dass das sowieso nie im Leben klappen würde."
Ein ähnlich gelagerter Fall sind die eigenen Fehler, die man besonders deutlich an anderen Menschen wahrnimmt. Wie oft habe ich es schon erlebt, dass sich Eltern genau über die Charaktereigenschaften ihrer Kinder am meisten aufregen, die sie selbst am deutlichsten haben bzw. hatten. Das gilt natürlich umgekehrt genau so. Die Hassliebe scheint gerade in Familien ein weitverbreitetes Phänomen zu sein.

Labels:

Mittwoch, 14. März 2007

Tinariwen

Liebe Freunde des Sahara Blues!

Letze Woche (7. März) fuhr ich extra nach Linz, um TINARIWEN live im Posthof zu sehen. TINARIWEN ("Leerer Ort") ist eine Tuareg Band aus dem Norden Malis, die in den letzten Jahren für einiges Aufsehen unter Weltmusikfans gesorgt hat. Obwohl es die Gruppe schon seit 25 Jahren gibt, begann ihre Karriere erst mit ihrem Auftritt beim alljährlichen "Festival in the Desert" in Mali 2001 und dem internationalen CD-Release THE RADIO TISDAS SESIONS (2002), das 2000 aufgenommen wurde. Darauf folgten AMASSAKOUL (2004) und erst kürzlich AMAN IMAN (2007). Das Interesse an Tuareg Musik ist im Moment so stark, dass gleich drei Gruppen gleichzeitig die Weltmusik Charts stürmen. Neben TINARIWEN sind noch TARTIT und ETRAN FINATAWA zu erwähnen, wobei letztere neben Tuareg auch Musiker vom Volk der Wodaabe zu den ihren zählen. Als Einstieg ist neben AMAN IMAN (auf "63" hört man fast Ali Farka Touré, den Bluesman Malis singen und spielen) auch INTRODUCING ETRAN FINATAWA (2006) zu empfehlen. TARTIT sind ein wenig gewöhnungsbedürftig. Wenn wir schon bei ALI FARKA TOURÉ sind: unbedingt in TALKING TIMBUKTU und SAVANE reinhören.

Jedenfalls machte ich einen kurzen Zwischenstopp bei den Eltern, um erstens HALLO zu sagen und zweitens die Karre auszuleihen. Um die reservierte Karte rechtzeitig um halb acht abzuholen, stieg ich pünktlich um viertel nach sieben ins Auto und ließ den Motor an. Man kennt doch dieses wohlbekannte Geräusch, wenn der Motor ewig vor sich hin stottert, bevor er dann endlich anspringt. Nun, darüber wäre ich ja heilfroh gewesen. In Wirklichkeit leuchteten kurz die Lichtlein auf und dann war gar nichts. Niente. Ofen aus. Um die Altvorderen nicht zu beunruhigen, hielt ich den Tod ihres Gefährts vorübergehend noch geheim und eilte stattdessen zur Bushaltestelle. Dieser kam erstaunlich schnell und auch der Umstieg in den nächsten klappte wie geschmiert und ohne größere Verzögerung. Um viertel vor acht betrat ich den Posthof und wunderte mich erst mal darüber, dass niemand da war. An der Kassa kam ich gleich dran und erhielt problemlos meine Karte. Wahrscheinlich waren sie alle schon drinnen. Also begab ich mich in den Mittleren Saal, wo gerade mal 5 Fans planlos herumstanden. Oh shit, das wird aber super peinlich werden, wenn niemand kommt. Österreich ist nun mal kein Land der Weltmusik. Selbst wenn Youssou N'Dour aufkreuzte, kämen nicht mehr als 200 Leute. Doch dann begann die Invasion: Innerhalb von 10 Minuten kamen 130 Leute und der Saal war fast voll. Witzigerweise handelte es sich großteils um Leute um die 50, also Fans der großen alten Gitarrenbands. Das passt auch irgendwie zusammen, weil TINARIWEN von denen beeinflusst wurde.
Das Konzert fing mit einer eher ungewöhnlichen akustischen Singer-Songwriter Nummer des Bandleaders Ibrahim Ag Alhabib an. Die Begeisterung war endenwollend. Dann kamen die anderen Musiker nach. Es dauerte etwa drei bis vier Nummern bis die Band eingespielt war und das Publikum in die Musik reinkam. Schließlich trafen wir uns alle auf halbem Weg: TINARIWEN wurde bluesiger bzw. rockiger und das Publikum verfiel zunehmend der Musik. Ich kann es sehr gut verstehen, wenn manche mit den CDs Probleme haben, aber LIVE funktioniert es früher oder später für jeden.
TINARIWEN ist in erster Linie ein ganz bestimmter Sound bzw. Groove, den man mögen muss. Die Variationen von Nummer zu Nummer sind minimal und für den ungeübten Hörer nicht existent. Man könnte auch sagen, dass alles gleich klingt. Selbst ich, der ich die CDs gut kannte, hätte am Schluss schwören können, dass sie gewisse Hits doppelt gespielt haben. Wie gesagt, es dauert eine Zeit lang, bis man die Musik annehmen kann, wie sie ist, aber dann ist es großartig und man kann sich locker zwei Stunden darin verlieren. So lange spielten sie nämlich fast. Auf dem Nachhauseweg war ich dann sehr glücklich, dass ich mich aufgerafft hatte.

Einige brauchbare Links:
http://www.tinariwen.com/
http://www.myspace.com/tinariwen
http://www.youtube.com/profile?user=tinariwen
http://en.wikipedia.org/wiki/Tinariwen
http://en.wikipedia.org/wiki/Tuareg

Labels:

Montag, 5. März 2007

Verpasst

Liebe Live-Dabei-Seiende!

Wenn man jung ist, hat man ständig den Eindruck die tollsten Dinge zu verpassen. Kaum sitzt man eine Minute still in seinem Kämmerlein, beschleicht einen das beklemmende Gefühl, dass gerade irgendwelche Menschen, mit großer Wahrscheinlichkeit sogar die eigenen Bekannten, irgendwo, wahrscheinlich aber gleich um die Ecke, jede Menge Spaß haben, während man selbst wieder einmal mutterseelenalleine zu Hause rumhängt, Trübsal bläst und an der Ungerechtigkeit der Welt verzweifelt. Denn die anderen haben es im Leben einfach besser erwischt: Sie sehen gut aus, sind beliebt, reich, selbstsicher und sportlich.
Man schleppt sich oft widerwillig zu irgendwelchen Parties oder zum Fortgehen in die Altstadt, weil es ja sein könnte, dass sich plötzlich das Blatt wendet und man selbst die schönste Zeit seines Lebens verbringt, weil (a) wie aus dem Nichts dieses wahnsinnig nette Mädel (bzw. dieser wahnsinnig süße Typ) auftaucht und das Schicksal es will, dass man mit ihr (bzw. ihm) in ein stundenlanges Gespräch (or whatever) verwickelt wird, oder (b) die Stimmung plötzlich ins Positive umschlägt, weil ein begnadeter Komiker ein Feuerwerk an Gags loslässt, über das man noch Tage reden wird.
Nun, meine empirischen Forschungen haben ergeben, dass das Verhältnis ungefähr 10 zu 1 ist. Das bedeutet, dass man zehn Abende lang bei ohrenbetäubernder Musik völlig verschwitzt und sinnlos in der Gegend rumsteht und sich ohrfeigen könnte, weil man wieder einmal so blöd war, bis dann plötzlich einer der oben beschriebenen Glücksfälle eintrifft und man endlich für die Mühsal belohnt wird. Selbst bei dieser optimistischen Schätzung bleibt es fraglich, ob sich 30 Stunden elendster Langeweile auszahlen, wenn man dann mit zwei Stunden erstklassigen Entertainments entschädigt wird.

Ein deutliches Zeichen dafür, dass man alt wird, ist, dass man plötzlich nicht mehr das Gefühl hat alles zu verpassen, sondern bereits alles verpasst zu haben. Wenn man auf sein Leben zurückblickt geht einem oft ein "Hätte ich doch damals ..., als ich noch ..." durch den Kopf. Dabei muss man gar nicht auf die allseits bekannte midlife crisis warten: Viele 20-jährige bereuen, dass sie ihre Schulzeit nicht anders verbracht haben, und viele 25-jährige jammern, dass sie nicht mehr 18 sind und mit drei Stunden Schlaf nach einer durchzechten Nacht auskommen. Das ganze passiert eben schleichend und ist nicht plötzlich mit 40 da. Entscheidend ist aber in jedem Fall, dass man noch immer an der Wahnvorstellung leidet, dass sich alle anderen zu Tode amüsieren, während man selbst als kleines, graues Zahnrad im großen Getriebe des Weltgeschehens dahinrackert.

Es stehen einem immer mehrere dutzend Optionen offen. Man muss sich einfach nur fragen, was man heute Abend theoretisch alles machen könnte. Jede konkrete Entscheidung für etwas bedeutet, dass man auf eine Unzahl von Alternativerfahrungen verzichtet. Wie sagt Phil Connors so schön in UND TÄGLICH GRÜSST DAS MURMELTIER: "Du triffst Entscheidungen und lebst mit ihnen". Die meisten leben mit dem, was sie haben, treffen aber keine Entscheidungen mehr. Das mag daran liegen, dass sie sich einst so festgelegt haben, dass sie jetzt nicht mehr auskönnen oder andere über sich entscheiden ließen.

Deshalb möchte ich euch jetzt noch zwei weise Worte am Schluss dieses Eintrags mit auf den Weg geben. Mein Freund Tom, ein begnadeter Philosoph, sagte einst: "Die Gaudi im Leben muss man sich selbst machen." Womit er völlig recht hat. Und ein chinesisches Sprichwort lautet: "Wer seinen Job liebt, muss ein Leben lang nicht arbeiten." CARPE DIEM heißt nicht Freude an dem zu finden, was man nicht hat, sondern Freude in dem zu finden, was man tut. So spricht der weise Obi-Wan.

Labels: ,