Mittwoch, 30. November 2005

Beginner's Guide to World Music

Liebe Musikologen!

World Music wurde am Montag, dem 29 Juni 1987 um 7 Uhr abends im Empress Of Russia in St. John Street, Islington (London), erfunden. Zumindest lässt sich das von der Bezeichnung behaupten, unter der seitdem kubanischer Son, kapverdische Mornas oder Gumbe aus Guinea-Bissau verkauft werden. Dieses Treffen der wichtigsten Vertreter des World Music Business (World Circuit, GlobeStyle, Sterns oder Hannibal - damals noch kleine Labels) war von einem zentralen Problem bestimmt. Als Paul Simon 1986 GRACELAND veröffentlichte (mit 14 Millionen verkauften Tonträgern einer der größten Erfolge im Weltmusikbereich), war im Plattenladen noch alles klar: die stellen wir unter S wie Simon gleich mal neben SOUND OF SILENCE auf. Als ein Jahr später Ladysmith Black Mambazo's SHAKA ZULU folgte, das Paul Simon für seinen südafrikanischen GRACELAND-Chor produzierte, sah die Sache schon anders aus. Wo sollen wir dat denn nun hinstellen? Pop ist es ja nicht und Rock schon gar nicht. Da blieb wohl nur F wie Verschiedenes. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten etablierte sich das neue Genre mit Bestsellern wie Mory Kantés AKWABA BEACH oder Salif Keitas SORO (beide 1987, millionenfach verkauft und heute nur schwer erträglich) sehr schnell.
Dass man heute AKWABA BEACH oder SORO nicht mehr auf heavy rotation laufen hat, liegt vor allem daran, dass es sich bei World Music oft nicht um echte roots music handelt, sondern um fusion music. Deshalb ist AKWABA BEACH als 80er Jahre Dancefloor Album sehr weit von originärer westafrikanischer Musik entfernt. Kanté spielt darauf zwar Kora, aber ansonsten ist außer seiner Stimme wenig Afrkanisches zu hören. Auf N'DIARABI (1981) war er noch näher an den Wurzeln dran, wenn auch hier Keyboard und Synthesizer dominieren - die 80er eben. Es ist bezeichnend, dass sowohl Kanté mit SABOU (2004) und Salif Keita mit MOFFOU (2002) und M'BEMBA (2005) zu ihren akustischen Wurzeln zurückgekehrt sind.
Für den Laien ist Weltmusik kaum durchschaubar, weil hier tatsächlich dutzende Musikstile aus der ganzen Welt zusammengefasst werden und zweitens die CD-Läden im deutschsprachigen Raum zwar ein Regal mit der Aufschrift WORLD MUSIC stehen haben, dort aber nur drittklassige Sampler zu finden sind. Wer sich einen Überblick verschaffen will, sollte das britische Magazin SONGLINES lesen und sich Simon Broughton's THE ROUGH GUIDE TO WORLD MUSIC (ca. 1400 Seiten) anschaffen. Da hat man dann ein Leben lang etwas zu tun.
Zum Schluss möchte ich noch ein paar hervorragende Alben aus Westafrika vorstellen, damit ihr euch nicht durch Berge von CDs hören müsst (so wie ich).

1) Rokia Traoré: BOWMBOI (2003)
Rokia Traoré (geb. 1973) zählt neben Oumou Sangaré und Kandia Kouyaté zu den drei bedeutendsten Sängerinnen Malis. Ihr Debütalbum MOUNEISSA (1998) schlug wie eine Bombe ein. Radio France Internationale wählte sie zur "African Discovery of the Year". Ihr zweites Album WANITA (2000) wurde von den Lesern des fROOTS Magazins (gleich nach SONGLINES die wichtigste World Music Publikation) zum "Album of the Year" bestimmt. BOWMBOI (2003) ist musikalisch minimalistisch. Es kommt mit n'goni, balaba (großes balafon) und percussions aus. Auf zwei Tracks ist das Kronos Quartett mit dabei. Das ganze Album lebt ausschließlich von Traorés außergewöhnlicher Stimme. Anspieltipps: "Sara" und "Déli". Unbedingt aktiv zuhören. Es lohnt sich!
P.S. Rokia Traoré ist auf Ballaké Sissokos hervorragendem Kora-Album TOMORA (2005) mit "Niman Don" vertreten.

2) Ali Farka Touré & Toumani Diabaté: IN THE HEART OF THE MOON (2005)
Was soll man da noch sagen? Wahrscheinlich eines der besten Instrumentalalben im World Music Sektor ... ever. Touré, der Bluesman Malis, und Diabaté, ein begnadeter Koraspieler, haben nach zahlreichen Kooperationen mit anderen Musikern (Touré mit Ry Cooder auf TALKING TIMBUKTU oder Diabaté mit Ketama auf SONGHAI 1+2) endlich zueinander gefunden. Außer ein paar supporting musicians (z.B. Orlando "Cachaíto" Lopez) hört man nur Tourés Gitarre und Diabatés Kora - und das auf Weltklasseniveau. Unbedingt kaufen!

3) Daby Balde: INTRODUCING DABY BALDE (2005)
Wenn man von senegalesischer Musik spricht, hört man immer die selben Namen: Baaba Maal, Youssou N'Dour, Cheikh Lo (neues Album LAMP FALL ist mehr als empfehlenswert!), Ismael Lo, oder Thione Seck. Mit Moutarou "Daby" Balde taucht nun plötzlich ein neuer Künstler auf, von dem Charlie Gillett, der Roger Ebert der Weltmusik, einfach so mal behauptet: "... this is his first international release and it could soon put him in the first division of the world’s great male singers." Spinnt er jetzt, der Charlie? "Introducing Daby Balde is so astonishingly good, I keep listening again to make sure I’m not exaggerating or misrepresenting it." Da wird man natürlich neugierig. Akkordeon, Saxophon, Violine - wie soll das denn zu E-Gitarre und Kora passen? Astonishingly well. Charlie Gillett lag schon manchmal daneben, aber nicht mit dieser Empfehlung. Hier passt einfach alles zusammen. Man kann gar nicht glauben, dass so etwas auf einem Debütalbum möglich ist. Anspieltipp: "Sora".

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Donnerstag, 24. November 2005

Brennen

Liebe Pyromanen!

Manche dachten schon, dass der Ofen aus sei. Dabei hatte ich gerade einmal zwei Wochen keine zündende Idee für einen gelungenen Eintrag. Ich weiß natürlich, dass viele darauf brennen vom Obstgarten täglich auf höchstem Niveau unterhalten zu werden, aber oft läuft mein Prozessor nur auf Sparflamme. Ich würde liebend gerne einen geistreichen Gag nach dem anderen abfeuern, damit die werte Leserschaft wieder Feuer und Flamme ist und die Emotionen hochlodern. Andererseits entpuppen sich gerade diese Leserprovokationen oft als ein Spiel mit dem Feuer.
Wie unschwer zu erkennen ist, geht es heute um das Brennen. Biologisch gesehen ist der Mensch ja ein Zuckerkraftwerk. Die Zuckerrübe, zum Beispiel, holt sich über die Blätter Kohlendioxid (CO2) aus der Luft und über die Wurzeln Wasser (H2O) aus dem Boden. Daraus bastelt sie dann unter Mithilfe von Sonnenenergie Zucker (C6H12O6). Diesen speichert sie in der Rübe. Pflanzen sind also nichts anderes als solarbetriebene Akkus. Diese Energiespeicher führt sich nun der Mensch zu Gemüte. In jeder Zelle des Körpers stehen fuzikleine Zuckerkraftwerke, die der Biologe Mitochondrien nennt. Darin verbrennen wir dann den Zucker unter Mithilfe von Sauerstoff und setzen die darin gespeicherte Sonnenenergie frei. Da es sich um eine genau Umkehrung der Photosynthese der Pflanzen handelt, bleiben auch genau die Stoffe übrig, mit denen alles anfing: Kohlendioxid und Wasser. Ein perfekter Kreislauf? Nicht ganz. Es gibt nämlich keine saubere Verbrennung und Sauerstoff ist im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährlich. Das haben wir alle in BACKDRAFT gesehen. Bewegung geht also organisch voll auf die Substanz. Da aber Bewegung einen ungeheuren Evolutionsvorsprung bedeutet, nehmen es die meisten Lebewesen (evolutionär gesehen) gerne in Kauf, dafür früher die Rolle heimwärts machen zu müssen. Fliegen ist die energieintensivste Bewegungsform und deshalb segeln viele Vögel nur fünfmal in den Süden, während Schildkröten schnell mal 200 Jahre alt werden können.

Unabhängig von den biologischen Tatsachen brennen wir natürlich auch gerne symbolisch. Hier das vielleicht bekannteste Gedicht von Edna St. Vincent Millay:

My candle burns at both ends;
It will not last the night;
But ah, my foes, and oh, my friends -
It gives a lovely light!

Wenn man im englischsprachigen Raum ordentlich Gas gibt, lange aufbleibt und somit zu wenig schläft, spricht man von "burning the midnight oil". Das geht, wie in dieser Redewendung angedeutet wird, natürlich auch auf die Substanz. Man verzehrt sich auch vor Liebe, Kummer oder Schmerz. Wenn Dr. Tolian Soran in STAR TREK: GENERATIONS meint, "Time is the fire in which we burn.", dann spricht er zwar in einem Bild, aber vielleicht hängen ja Zucker, Lebensenergie und Zeit enger zusammen, als man allgemein annimmt. Vielleicht gilt ja im Kleinen, was im Großen gilt und die Lebensenergie, an den biologischen Körper gebunden, ist wie die Sonnenenergie. Irgendwann verzehrt sich jeder Stern selbst.
Bleibt also die Frage, wofür und für wen es sich auszahlt Feuer und Flamme zu sein. Will man als leuchtendes Beispiel vorangehen? Will man ganz egoistisch sein und nur für sich selbst leuchten, wie Shakespeare in seinem ersten Sonnet schreibt?

But thou, contracted to thine own bright eyes,
Feed'st thy light's flame with self-substantial fuel,
Making a famine where abundance lies,
Thyself thy foe, to thy sweet self too cruel.

Oder sollte man, ganz im Gegenteil, verschwenderisch mit seinem Licht umgehen und mit Widerschein belohnt werden? Kann man Energie spenden? Kann man sich an Dingen, Kunst, Ideen und Menschen wärmen?

Montag, 7. November 2005

Santa Maria

Liebe Schlagerfans!

Ich spreche wahrscheinlich für uns alle, wenn ich mich über die menschenverachtende Engstirnigkeit beklage, mit der viele Menschen über unsere geliebte Musik herziehen. Ständig wird den Künstlern der Schlagermusik unterstellt, dass die Texte banal seien und die Melodien nicht über die Komplexität von Kinderliedern hinausgingen. Dagegen muss ich mich entschieden wehren! Deshalb möchte ich heute einen der größten Triumphe der Schlagermusik auf Herz und Nieren prüfen und Wortgewalt wie philosophischen Tiefgang dieses Meisterwerks im Detail aufzeigen. Roland Kaisers "Santa Maria" hielt sich 1980 unglaubliche fünf Wochen auf Platz 1 der deutschen Hitparade und darf deshalb als Klassiker auf seinem Gebiet gelten. Aber nun zum Text:

SANTA MARIA

Santa Maria, Insel, die aus Träumen geboren,
ich hab' meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt.
Santa Maria, nachts an deinen schneeweißen Stränden
hielt ich ihre Jugend in den Händen,
Glück, für das man keinen Namen kennt.

Santa Maria, die drittgrößte und geologisch älteste Insel der Azoren, liegt 55 Meilen südlich der Hauptinsel Sao Miguel. Die Azoren wiederum liegen 1000 km nordwestlich der Kanarischen Inseln im Atlantischen Ozean. Das Archipel wurde 1427 von den Portugiesen entdeckt und gehört seitdem zu Portugal, wenn auch mittlerweile durch ein eigenes Parlament die Autonomie der Inselgruppe (1976) großteils sichergestellt ist.
Der Ich-Erzähler bezieht sich bewusst auf Fragestellungen der postmodernen Philosophie, vor allem aber auf die Unwirklichkeit ("Insel, die aus Träumen geboren") und Unbeschreiblichkeit der Realität ("Glück, für das man keinen Namen kennt"). Gefangen im eigenen Diskurs versucht das postmoderne Subjekt vergeblich Erfahrungen in adäquate verbale Artefakte zu verwandeln. Die Ausgeliefertheit den eigenen Gefühlen gegenüber ("ich hab' meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt") übt versteckte Kritik am Diktat der Rationalität.
Auf subtile Weise führt der Erzähler das Gegenüber ein: im Possessivpronomen "ihre" wird die Präsenz einer weiteren Figur vorweggenommen, die hier nur mit Jugendlichkeit in Verbindung gebracht wird. Dies eröffnet einen Reigen von Gegensätzlichkeiten, der wesentlich zum Spannungsbogen des ganzen Liedes beiträgt. Nun aber zur zweiten Strophe:

Sie war ein Kind der Sonne, schön wie ein erwachender Morgen.
Heiß war ihr stolzer Blick, und tief in ihrem Inner'n verborgen
brannte die Sehnsucht,
Santa Maria, den Schritt zu wagen, Santa Maria,
vom Mädchen bis zur Frau.

Bereits hier erreicht der Text seinen komplexen Höhepunkt. Mit "Kind" greift der Erzähler das Thema Jugend wieder auf und führt es im Kontrast Mädchen-Frau weiter. Gleichzeitig wird hier eine Entwicklung skizziert: Die junge Frau befindet sich in einer Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt. Für diese kritischen Entwicklungsschritte im Leben eines jeden Menschen hat die Sozialanthropologie den Begriff "liminale Existenz" geprägt. Natürlich ist diese Grauzone zwischen zwei sozial klar definierten Positionen mit Risiken und Unsicherheiten verbunden ("den Schritt zu wagen"). Dies drückt sich sehr schön im Konflikt zwischen äußerem Gehabe ("stolzer Blick") und innerer Befindlichkeit ("brannte die Sehnsucht") aus.
Bemerkenswert ist auch die Ambiguität, die in der zweifachen Nennung des Inselnamens "Santa Maria" zum Ausdruck kommt. Da sich die Strophe eindeutig und ausschließlich mit der jungen Frau befasst, müssen wir davon ausgehen, dass sich "Santa Maria" in diesem Fall auf das Mädchen bezieht. Dies ist von entscheidender Bedeutung. Die Einwohner der Azoren sind zu 97% katholisch und gelten als besonders religiös. Die Insel trägt also nicht zufällig den Namen der heiligen Jungfrau und Gottesmutter Maria. Durch die Übertragung der Attribute Marias (Jungfräulichkeit, Reinheit) auf das Mädchen, wird die grundlegende Spannung des Liedes um die religiöse Dimension erweitert. Die Figuren führen, wie bereits erwähnt, eine Schwellenexistenz zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Rationalität und Gefühlen, zwischen Selbstbeherrschung und wildem Ausleben. Dies führt uns zur dritten Strophe:

Santa Maria, Insel, die aus Träumen geboren,
ich hab' meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt.
Santa Maria, ihre Wildheit ließ mich erleben,
mit ihr auf bunten Flügeln entschweben
in ein fernes, unbekanntes Land.

In der bedingungslosen Auskostung junger Liebe gelingt den beiden die Flucht in eine Traumwelt abseits moralischer Engstirnigkeit. In Ermangelung eines besseren Ausdrucks möchte ich diesen Zustand der totalen Losgelöstheit mit "Flow" bezeichnen, einen Begriff, den Mihaly Csikszentmihalyi in "Flow: The Psychology of Optimal Experience" (HarperPerennial, 1991), besonders im Kapitel 5, "The Body in Flow" (S. 94-116), im Bezug auf körperliche Erfahrungen näher ausführt. Dies kommt in der ersten Zeile der vierten Strophe besonders deutlich zum Ausdruck:

Wehrlos trieb ich dahin, im Zauber ihres Lächelns gefangen.
Doch als der Tag erwacht', sah ich die Tränen auf ihren Wangen,
Morgen hieß Abschied.
Santa Maria, und meine Heimat, Santa Maria, war so unendlich weit...

Das Glück nimmt ein jähes Ende. Mit der bevorstehenden Abreise stürzt die Welt der Illusionen in sich zusammen. Die Realität holt das junge Paar ein und erzwingt nach einer Nacht physischer Nähe die unausweichliche Trennung. Hier wird die Ausgeliefertheit des Menschen an externe Umstände thematisiert, die den einzelnen in ein Korsett aus Zwängen und Pflichten schnüren.
Mit der erneuten Nennung des Namens wird das ambigue Spiel fortgesetzt. Wird hier das Mädchen angesprochen? Nennt der bereits zurückgekehrte Gast die Insel seine (seelische) Heimat?

Santa Maria, Insel, die aus Träumen geboren,
ich hab' meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt.
Santa Maria, niemals mehr hab' ich so empfunden,
wie im Rausch der nächtlichen Stunden,
die Erinn'rung, sie wird nie vergeh'n.

Hier wird die Unwiederbringlichkeit menschlicher Erfahrung auf drastische Weise vor Augen geführt. Das perfekte Glück ist flüchtig und kann nur in der Erinnerung dauerhaft bestehen.

Ich hoffe sehr, dass mit dieser Analyse die Komplexität und philosophische Verankerung moderner Schlagertexte deutlich wird. Bevor sich das nächste Mal ein Kritiker zu einem weiteren oberflächlichen Pauschalurteil hinreißen lässt, sollte er sich lieber die Mühe machen und genau hinsehen. Es lohnt sich!

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Freitag, 4. November 2005

Der Tag der elektrischen Salatschleuder

Liebe Feiertagsfanatiker!

Ich weiß ja nicht, wer damit angefangen hat, aber mittlerweile ist jeder Tag ein Gedenk- bzw. Feiertag. Die katholische Kirche hat an sich schon mehr Festtage als alle anderen Religionsgemeinschaften zusammen und mindestens einen Heiligen für jeden Tag im Jahr. Dazu kommen dann noch die privaten Geburts- und Namenstage, die Hochzeits- oder Beziehungsjubiläumstage, der Vater- und Muttertag, der Valentinstag, der Staatsfeiertag, der Rupertitag, der Faschingsdienstag, Silvester und mittlerweile auch noch Halloween. Und dann hat man zur Bewußtseinsbildung noch besondere Gedenktage eingeführt: den Tag der Arbeit, der Artenvielfalt, des Baumes, des Buches, der Epilepsie, der erneuerbaren Energien, der Frau, des Kindes, der Muttersprache, der Pressefreiheit, der Raumfahrt, der Technik, der Verkehrssicherheit, des Wassers, der Zahngesundheit etc. Da lasse ich natürlich alle Tage der offenen Tür, alle jährlichen Feste und die immer populärer werdenden langen Nächte des Einkaufs, der Kunst, der Museen, der Musik, der Wissenschaften usw. aus. Selbst bei den Kinofilmen bleibt man nicht verschont: "Der Tag der toten Ente", "Der Tag der Idioten", "Tag der Abrechnung", "Tage des Donners" usw.
Die natürliche Reaktion auf diesen inflationären Umgang mit besonderen Tagen ist vermutlich eine wachsende Ablehung weiterer aufoktruierter Gedenk- und Feiertage. Ich möchte aber das genaue Gegenteil vorschlagen: Macht euch eure eigenen Feiertage. Findet heraus, wann euer Lieblingsschauspieler, -regisseur, -autor, -musiker etc. Geburtstag hat und widmet ihm nicht nur den Tag, sondern auch ein bisschen Zeit. Feiert eure Hobbies und Interessen, eure großen und kleinen Triumphe im Leben, eure Eigenheiten, alles wofür es sich auszahlt weiterzumachen. Und wenn ihr kein Datum dafür habt, kann ich nur sagen: Jesus ist auch nicht am 24. Dezember auf die Welt gekommen. Vielleicht sollte man neben dem aktuellen Kalender einen immer gültigen Jahreskalender aufhängen, der einen an die privaten Feiertage erinnert. Das ist zumindest eine Überlegung wert.

Mittwoch, 2. November 2005

Ödipus - Hamlet - Jack Bauer

Liebe Mythologen!

Nach "We need man like you" und "A History of Violence" bringe ich hiermit die völlig ungeplante Gewalt-Trilogie zu Ende. In seinem Buch "Die gnadenlose Liebe" (Suhrkamp, 2001) entwirft Slavoy Zizek ein Modell, wie sich die Tragik der mythischen Helden im Laufe der Zeit wandelt, aber stets aus dem Verhältnis von Wissen und Tat resultiert.
Das Schicksal des Ödipus wird insofern als besonders tragisch empfunden, als der Held handelt ohne die Zusammenhänge zu kennen. Zwar prophezeit das Orakel seine Taten, aber gerade seine Flucht vor diesem Fluch treibt ihn genau dazu: Er tötet seinen Vater Laios, heiratet seine Mutter Iokaste und zeugt vier Halbgeschwister. Das Schicksal hat sich gegen ihn verschworen und lässt ihn im Dunkeln, bis Vatermord und Blutschande vollzogen sind. Ödipus selbst nimmt die Ermittlungen auf, um den Mörder des früheren Königs zu finden. Nach einer intensiven Suche nach Wahrheit kommt er sich schliesslich selbst auf die Schliche.
Bei Hamlet liegt der Fall ganz anders: Ein Zu-viel-wissen macht den armen Prinzen völlig handlungsunfähig. Bereits in der 5. Szene des 1. Akts tritt sein eigener Vater als "Kronzeuge im Mordprozess" auf und erzählt aus der Sicht des Opfers den Tathergang im Detail. Was könnte sich ein Detektiv noch mehr wünschen? Doch der zögernde Prinz braucht Beweise. Er inszeniert die Bluttat als Theaterstück und als sein Stiefvater und Onkel an der entscheidenden Stelle aufspringt und davonläuft, ist jedem klar, dass der Geist nicht log. Doch Hamlet ist wie gelähmt. Gerade weil er alles weiß, handelt er nicht.

Jetzt lasse ich mal kurz den Slavoy zu Wort kommen:
"Doch es gibt noch eine dritte Formel, um die dieses Paar - "Er weiß es nicht, obwohl er es tut" und "Er weiß es und kann es daher nicht tun" ergänzt werden muß: "Er weiß ganz genau, was er tut, und dennoch tut er es." Während die erste Formel den traditionellen Helden betrifft und die zweite den der frühen Moderne, charakterisiert die letzte, die das Wissen und den Akt auf zweischneidige Weise miteinander kombiniert, den spätmodernen - postzeitgenössischen - Helden." (S. 14)

Was er damit meint, verrät er ein wenig später: "Kurzum, die eigentlich moderne post- oder metatragische Situation besteht darin, daß mich eine höhere Notwendigkeit zwingt, die ethische Substanz meines Wesens zu verraten." (S. 15)

Dieser Definition zur Folge ist Jack Bauer der moderne Held schlechthin. Ständig opfert er sein privates Glück, seine Gesundheit und seine moralischen Grundsätze for the greater good - to save millions of lives. Er ist sich dabei ständig der Konsequenzen seines Handelns bewußt: "No one understands that better than I do."
Er weiß genau, was er tut, und dennoch tut er es.
In A HISTORY OF VIOLENCE passiert so etwas ähnliches. Um sich, seine Familie und seine Freunde zu schützen, muss Tom Stall wieder zur Bestie werden und seine Vergangenheit nicht nur im Kopf, sondern jetzt auch in der Realität auslöschen. Wie bei Jack Bauer ist der Preis für den Schutz seiner Familie seine Familie. Gewalt wird immer mit Opfern bezahlt.

Nun aber zur Preisfrage: Ist Jack Bauer tatsächlich der prototypische Held unserer Zeit? Gibt es noch den unwissenden und den zögernden Helden? Und was ist eigentlich mit den Frauen? Gibt es da ganz andere Heldentypen?

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