Samstag, 25. Juni 2005

Purity and Danger

Liebe Putzteufel!

Nach Marshall McLuhans "Understanding Media" (1964), widme ich den heutigen Beitrag einem weiteren Buch aus der Reihe Routledge Classics, nämlich Mary Douglas' "Purity and Danger" (1966).
Im Wesentlichen geht es um Dreck. Während wir unter Dreck bzw. Schmutz die Verunreinigung einer Oberfläche im häuslichen Umfeld verstehen (Boden, Möbel, Kleidung etc.), geht Douglas als Sozialanthropologin einen Schritt weiter und definiert Schmutz als Unordnung. Das klingt jetzt banal, hat aber weitreichende Konsequenzen.
Jede Gesellschaft schafft sich ein eigenes Ordnungs- oder Klassifizierungssystem, dass durch ihre Institutionen (Familie, Gericht, Schule, Kirchen, Polizei, Regierung, Verbände, Vereine etc.) gefestigt und verteidigt wird. Man kann auch einfach soziale Ordnung dazu sagen. Alles, was nicht erwünscht ist, wird mit einem Verbot bzw. Taboo belegt - besonders im menschlichen Miteinander (oder hier auch Gegeneinander). Eine Unordnung im sozialen Bereich (moralische Übertretung) wird interessanterweise mit Schmutz assoziiert. Das wird besonders im Englischen deutlich: "dirty" bedeutet eben nicht nur "schmutzig", sondern auch "ungezogen" (dirty boy), "unanständig" (dirty joke), "moralisch verwerflich" (dirty old man), "unehrlich" (dirty trick), "beschmutzt" (I feel dirty.), "Scheiß- bzw. Sau-" (dirty weather) etc. "Dreck" bedeutete ja ursprünglich "Exkrement", was im Wort "Scheißdreck" noch erhalten ist.
Das Entfernen von Schmutz - auch in diesem weiter gefassten Sinn - bedarf immer einer Reinigung. Deshalb haben die meisten Religionen Waschrituale, die mit einer Verschmutzung im engeren Sinn ja gar nichts zu tun haben. Es handelt sich um eine symbolische Wiederherstellung der Ordnung. Im Weiß des Hochzeitskleids trifft sich das Saubere mit dem moralisch Korrekten (Jungfräulicheit in diesem Fall). Das "saubere Madl" hat sich nicht nur hinter den Ohren gut gewaschen, sondern ist auch anständig. Genauso sagen manche Bayern noch heute "sauber" für "super" oder "gut gemacht".
Es ist ja auch kein Zufall, dass man von Psychohygiene spricht. Man muss eben die Unordnung, den Schmutz, wieder aus dem System rauskriegen. Viele Menschen mit einer seelischen Störung entwickeln deshalb auch einen Putz- oder Waschfimmel und oft einen übertriebenen Ordnungssinn. Wenn man in sich das Chaos trägt, beruhigt wenigstens die äußere Ordnung, die ja wesentlich leichter herstellbar ist.
Nachdem ich "purity" schon angesprochen habe, fehlt jetzt noch "danger". Das Wort hat ja auch eine Doppelbedeutung: "gefährlich" und "aufregend". Die Überschreitung einer gesellschaftlichen Norm übt ja oft eine große Anziehung (bzw. Ausziehung) aus. Für eine soziale Ordnung bedeuten Ausstieg, Veränderung und Taboobruch immer eine Gefahr. Deshalb ist die Funktionstüchtigkeit einer Gesellschaft am besten daran ablesbar, wie sie mit Außenseitern, neuen Ideen und moralischen Übertretungen in der Grauzone zwischen Recht und Unrecht umgeht. Denn die Ausnahme von der Regel ist mindestens genau so wichtig, wie die Regel selbst.

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Dienstag, 21. Juni 2005

Tausche Familie

Liebe Doku-Soap-Fans!

ATV+ fasziniert mich mehr, als ich gerne zugeben möchte. Eigentlich wollte ich ja über etwas ganz anderes berichten und gar nicht fernsehen, aber in diesem Moment verfolge ich mit großer Begeisterung "Tausche Familie" auf ATV+, dem Unterhaltungssender meines Vertrauens. Hier ist die Beschreibung dieser 6. Folge der 8. Staffel meiner neuen Lieblingsserie:

"Richard (26) aus Ottensheim verlässt für eine Woche seine Freundin Sonja (22), ihres Zeichens Hundefrisörin, und deren Mutter Margarete (48). Das Reihenhaus, welches die 3 gemeinsam mit 3 Hunden bewohnen gehört der alleinstehenden Margarete. Richards Platz nimmt der gebürtige Wiener Michael (46) ein. Er lebt [mit] Frau Ilse (55), Ilses Sohn aus erster Ehe Mario (27) und dessen Lebensgefährtin Nimo (26) in Strasshof. Die Familie hat sich vor 11 Jahren den Traum eines eigenen Hauses erfüllt. Gesprächsthema gibt es meistens nur eines: Das Hausbauen.

In Ottensheim dagegen herrschen andere Verhältnisse. Richard ist ein Versicherungsvertreter wie aus dem Bilderbuch – jung, dynamisch, attraktiv und vor allem redegewandt. Seine Freundin Sonja betreibt einen Hundesalon, Mutter Margarete arbeitet als Köchin."

Richard (26) war früher Bäcker, hat sich aber aus eigener Kraft in den Finanzdienstleistungssektor hochgearbeitet, wo er nun scheinbar sehr erfolgreich die breite Öffentlichkeit gegen Vulkanausbrüche, Heuschreckenschwärme und Schwiegermütter versichert. Er ist, wie die ATV+ Homepage korrekt informiert, tatsächlich "jung, dynamisch, attraktiv und vor allem redegewandt." Umso erstaunlicher scheint daher seine Beziehung zu Sonja Hanslmayr (22) zu sein, die als Hundefrisörin ihren eigenen Salon betreibt. Als erfolgreiche Jungunternehmerin kann sie es sich offensichtlich leisten, die Komplexität einer postmodernen Existenz völlig auszublenden, den Gartenzaun als Grenze ihrer erfahrbaren Welt zu akzeptieren und der geradezu buddhistischen Einfachheit ihres Lebens auch sprachlich gerecht zu werden. Dabei würde sie ihre Mutter Margarete Kastner (48) in einem Rhetorikwettstreit mit Leichtigkeit an die Wand spielen.

Richard zieht also nun bei Michaels Familie ein. Ilse Brombach-Zamar (55), hauptberuflich Hausfrau und Hausbesitzerin, kümmert sich liebevoll um den neuen Mann an ihrer Seite, der ihr eher wie ein zweiter Sohn als ein Ersatz für ihren werten Gemahl vorkommt. Mario (27), ihr Sohn aus erster Ehe, ist ein erfolgreich rehabilitierter Junkie und Dealer, der als Lagerarbeiter und Kampfsporttrainer für Hau-Fes-Tsu, eine seltene Variante des traditionell chinesischen Fang-Den-Shu, den Weg zurück in die Gesellschaft gefunden hat. Richard und Mario werden schnell Freunde.

Bei Michael, einem 46-jährigen Berufsmacho und Straßenbahnfahrer, sieht es nicht ganz so rosig aus. Richard, der seine Sonja in den wenigen Jahren ihres gemeinsamen Glücks schon völlig durchschaut hat, warnt seinen Ersatzmann eindringlich vor den Launen seiner Lebensgefährtin: "Wenn das Frühstücksei nicht passt, ist sie den ganzen Tag stinksauer." Natürlich ist Michael mit den zahllosen Objekten überfordert, die der Zelebration des Hanslmayerischen Eierkults dienen. Wie zu erwarten war, hat die Dame des Hauses an der Konsistenz etwas auszusetzen und das ungenießbare Weichei wandert in den Mülleimer.
Ihren Zorn zieht er sich aber damit zu, dass er ungefragt eine Kundschaft Sonjas, die sich über die Frisur ihres geliebten Vierbeiners nicht sicher ist, in deren Gegenwart berät. Hier liegt eine unverzeihliche Kompetenzüberschreitung vor. Frau Hanslmayr mag vielleicht nicht viel von der Welt jenseits ihres Gartenzauns verstehen, aber im Bereich Tierkosmetik und Tierästhetik ist sie die Expertin.
Zum offenen Schlagabtausch führt hingegen erst die Pergola-Debatte, das Kernstück dieser mitreißenden Episode. Diese "Laube [...] aus Pfeilern od. Säulen als Stützen für eine Holzkonstruktion, an der sich Pflanzen [empor]ranken" (Duden's "Das große Fremdwörterbuch") soll der gute Michael nämlich mehrmals (!) lackieren, was ihn so gar nicht freut. Er sinnt auf Vergeltung und wittert einen moralischen Sieg in der Zurechtweisung, dass es sich nicht um eine Pergola im eigentlichen Sinn handeln kann, da die Dachkonstruktion zum Schutz des Autos dient. Diese sei dann ein "Carboard" und eben keine Pergola. Sonja widerspricht heftig. Also nützt Michael seinen nächsten Besuch in Linz und kauft in der Buchhandlung ALEX am Hauptplatz das oben bereits zitierte Fremdwörterbuch. Wie ein kleines Kind freut sich da der Michael, als Alex himself ihm die Definition auch gleich noch im Geschäft vorliest. Kaum kann er es erwarten, den zwei blöden Weibern im ungliebten Haus den dicken Wälzer unter die Nase zu halten. Sonja und Margarete zeigen sich aber unbeeindruckt. Michael ist und bleibt ein alter Besserwisser. Nach längerem Hickhack eskaliert der Konflikt. Michael, dem die ganze Sache schön langsam "am Arsch vorbei" geht, verschafft sich schließlich Luft: "I scheiß auf die Pergola."
In der gemeinsamen Schlussrunde an einem Tisch gehen nochmals die Wogen hoch. Margarete stellt mit voller Überzeugung fest: "I mecht mit'n Michael kan Kontakt nimma hom." Das liegt hauptsächlich daran, dass er die Sonja "bled herg'stöt" hod. Der Michael weiß sich aber zu helfen: "Du host a Glick, weußt a Frau bist. Waunst a Mau wast hed i di umg'hockt." Da fällt es Sonja wie Schuppen aus den Haaren. Sie erkennt plötzlich die Gemeingefährlichkeit dieses Mannes und diagnostiziert: "Der Michael is nimma zu retten. Der g'hert in an Nervenaunstoit."

Am Sonntag, dem 26. Juni, läuft um 16.50 Uhr die Wiederholung und ich werde wieder mit dabei sein.

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Donnerstag, 16. Juni 2005

Summer Splash!!

Liebe Partytiger!

ATV+, der Nachrichtensender meines Vertrauens, hat mich soeben darüber informiert, dass die größte österreichische Sexorgie außerhalb unseres geliebten Heimatlandes unmittelbar bevorsteht. Am 24. Juni werden tausende österreichische Maturanten nach Kemer in der Türkei reisen, um in drei exklusiv für sie gebuchten Clubs eine Woche lang die Nacht zum Tag zu machen: Sommer, Sonne, Sand, Saufen und Sex.



Als 18-jähriger Maturant habe ich laut ATV+ nur Dosenbier und geile Weiber im Kopf. Bin ich doch ein bisschen schüchtern, hilft mir der Reiseveranstalter mit lustigen Kennenlern- und Knutschspielen. Unter Tagesprogramm findet man auf der Summer Splash Homepage:

"Dir gefällt der Typ oder das Mädel von der Liege nebenan? Wir garantieren (Haut-)kontakt! Gute Gelegenheit dazu bieten zum Beispiel das NOKIA Puls Game, bei denen das Objekt der Begierde um einen heißen Kuss nicht herum kommt. Wer trotz vollem Körpereinsatz und aller Baggerversuche keinen Aufriss macht, kann noch den offiziellen Abschleppdienst des ÖAMTC Luftmatratzenrennen nützen ..."

Was wäre so ein all-inclusive Cluburlaub ohne süßen Sportlehrer, den wir Mädels dann eine Woche lang anschmachten können. Mit ein wenig Glück sind wir vielleicht auch seine Traumfrau und aus dem One-Night-Stand wird eine dauerhafte Beziehung. Der ultra-coole Typ heißt in diesem Fall Tommy und ist ein Partytier ohne Ende:


Seit zwei Wochen schon gibt uns der süße Tommy, der den urcoolen Spitznamen JohnFKenyeri hat, in seinem Blog total praktische Tipps für die Reise. Lest aber nun selbst den Eintrag von heute Vormittag:

"Jetzt bekomme ich schon die Panik, was ich alles einpacken muß, denn morgen ist der letzte Tag, wo ich noch was besorgen kann.
Es gibt ja jeden Tag geile Partys bei Summer Splash. Freitag ist das Warm Up, da braucht ihr noch keine spezielle Kleidung, mein Tip ist: Zieht eure Maturasprüche T-Shirts an, denn vielleicht werden sie ja prämiert.
Samstag ist dann die MEGA Welcomeparty - da heißt es lockere Partykleidung anziehen, denn das wird eine lange Nacht. Eröffnungszeremonie...
Sonntag ist dann die 3 Friends of XCIte Night. Wer kennt sie nicht, die 3 coolen Jungs aus der A1 Werbung. Schafft ihr es ein geileres Partyoutfit zu haben? Auf jeden Fall gibt es einen tollen Preis für die 50 besten Outfits. Ich verrate euch auch schon was ihr gewinnen könnt. Für die besten 50 gibt es eine Partybootstour für einen Tag, inkl. Getränke, Party... Geil oder.
Montag wird es dann nass, bei der SPLASH Night, denn da gibt es Schaumparty und Wett T-Schirt Contest. (Dresscode - Badehose und Bikini, bzw. oben ohne)
Dienstag steht ganz im Zeichen von Black & White. Mädels ziehen sich weiß an und Burschen schwarz. Bitte den Dresscode einhalten, denn wenn die Mädels schwarz angezogen sind, sieht man die String Tangas nicht :-)
Mittwoch ist die legendäre Carribean Night. Burschen packt die Hawaii Hemden aus, denn da gibts Beachfeeling. Lagerfeuer Romantik, Gitarrenmusik, Feuershows, Bacardi Beachbar...
Für alle die gerne Blumenkränze haben wollen - kein Problem, wir haben hunderte mit, einfach bei Theresa und Steffi am Merchandise Stand abholen.
Donnerstag ist Beachmania Tag. Da kommen die Ö3 Stars und ihr könnt es live miterleben. Ich verspreche euch, so eine Stimmung habt ihr noch nie erlebt.
Freitag ist wechsel und dann beginnt die Woche wieder von vorne.
Wichtig für euch ist, dass ihr die richtigen Sachen in den Koffer packt."

Wichtig für euch ist, dass ihr die richtigen Sachen in den Koffer packt. Der Mann hat eben jahrelange Erfahrung. Das wirklich faszinierende an Summer Splash ist ja, dass es sich um eine Kaffeefahrt für Teenager handelt. Während man den Omis Heizdecken, Geschirr und Kaffeemaschinen andrehen will, lechzen hier halt A1, Nokia, Coca Cola, Eskimo und Ö3 nach den blutjungen Konsumenten. Es beruhigt mich übrigens sehr, dass unser öffentlich-rechtlicher Rundfunk das Summer Splash Spektakel voll endorsed (Danke, Chris, für das neue Wort!), denn der Sender hat ja einen offiziellen Bildungsauftrag. Mir tun eigentlich die hunderten Maturanten leid, die von ihren Klassenkameraden dazu gezwungen werden. Dabei sein ist nicht immer alles.

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Mittwoch, 15. Juni 2005

The Medium is the Message

Liebe Medienfans!

Marshall McLuhan gilt noch immer als einer der großen Propheten des Medienzeitalters. In den 60er Jahren wurde er kultisch verehrt und seine Bücher werden bis heute immer wieder neu aufgelegt. Routledge, ein renommierter Londoner Universitätsverlag, hat vor kurzem McLuhan's "Understanding Media" (1964) in seiner Klassikerreihe des 20. Jahrhunderts rausgebracht, wo sich sonst nur die ganz Großen ein Stelldichein geben: Einstein, Foucault, Freud, Piaget, Sartre, oder Wittgenstein. Überraschenderweise läßt sich seine gesamte Theorie in einem einzigen Satz ausdrücken: "The Medium is the Message." Für eine sinnvolle Erklärung werde ich allerdings etwas mehr als 5 Worte benötigen.
McLuhan geht zuerst einmal davon aus, dass ein Medium jegliches Hilfsmittel ist, das unseren Aktions- und Erfahrungsradius erweitert. Da gehört ein Presslufthammer genau so dazu wie ein Buch. Der Einfachheit halber beschränkt er sich aber meistens auf Kommunikationsmedien. Bei diesen stellt er fest, dass die eigentliche Botschaft (z.B. der Inhalt eines Buches) gesamtgesellschaftlich gesehen keine Bedeutung hat. Viel entscheidender ist, wie das Medium an sich die Gesellschaft verändert. Die "Message" des Buchdrucks (oder der Gutenberg-Technologie, wie McLuhan sie nennt) ist eben gerade nicht die Bibel, Shakespeare's Plays oder Dieter Bohlens Autobiografie, sondern die Notwendigkeit Realität in kleinste Sinn- und Erlebniseinheiten zu zerlegen, die dann in langen verknüpften Kausalketten abgehandelt werden. Diese Zerstückelung unserer Erfahrungswelt spiegelt sich nun in allen unseren Lebensbereichen wieder: das Fließband, die Bauanleitung eines Ikeakastens, die Organisation einer Powerpointpräsentation, ein Kochrezept, Harry Potter Teil 6, ein Aufsatz über die Ursachen des 2. Weltkriegs - sie alle basieren auf dem selben Grundprinzip von Fragmentierung und Sequenzierung. Gutenbergtechnologie kostet sehr viel Zeit, weil sie die Gleichzeitigkeit der Erfahrungswelt in endlose Ketten von Einzelaspekten zerlegt. Die beiden Grundfertigkeiten, die man für die (De)kodierung dieses Systems beherrschen muss, sind Lesen und Schreiben.
Bei der Gleichzeitigkeit der Erfahrungswelt hakt McLuhan ein. Nach Jahrhunderten der Fragmentierung und Spezialisierung hat unsere Technologie, die noch immer auf Gutenberg basiert (der binäre Code der Computer) einen Level erreicht, der mittel- bis langfristig die Fundamente unseres Systems erschüttern wird. Die Rede ist von der Instantgesellschaft. In unserer umtriebigen Zeit werden Ruhe, Geduld, Konsequenz und Fokus, die einem Lesen und Schreiben abverlangen, immer mehr als Bürde gesehen. Die neuen Medien erlauben nach Jahrhunderten wieder eine Gleichzeitigkeit des Erlebens. "Multitasking" und "Instant" sind die großen Zauberworte. Alles muss schnell und gleichzeitig gehen. Das Internet erlaubt unmittelbaren Austausch mit der ganzen Welt und wer nicht ständig online ist, fühlt sich von der "wirklichen" Welt abgeschnitten. Wie sagte Botho Strauß nochmal so schön: "Das Globale ist uns längst vertrauter als das Häusliche. Im herdlosen Raum wächst nun das Fernweh nach vertrauten Verhältnissen."
Die wahre Tragödie besteht aber darin, dass wir restlos überfordert sind. Der Zwang im global village zu leben führt dazu, dass wir weder dort noch hier zu Hause sind. Die Wahlmöglichkeiten explodieren, während die Entschlussfreudigkeit dramatisch sinkt. Die Vielfalt und Gleichzeitigkeit des Angebots suggerieren, dass unsere momentane Lebenssituation inadäquat ist und wesentlich bessere Umstände irgendwo da draussen auf uns warten. Das Leben im Transit (auf der Überholspur) wird schnell zum LOST IN TRANSLATION.
Deshalb möchte ich mit einem weiteren Satz von Botho Strauß schließen, den ich schon an anderer Stelle zum Besten gab: "Fortschritte machen beim Sichern der eigenen Begrenzung."

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Sonntag, 12. Juni 2005

Zug

Liebe Reisende!

Zugabteile sind magische Orte. Das liegt hauptsächlich daran, dass man in Bezug auf Zeit, Ort und Gesellschaft in eine andere Welt eintritt.
Zugzeit ist in erster Linie Frei-Zeit. Viele machen den Fehler und halten sie für Unzeit, die man irgendwie überbrücken oder totschlagen muss. Für Anfänger und Unbelehrbare handelt es sich natürlich um unbekannte und unverplante Zeit, die man zu füllen nicht gewohnt ist. Manche stellt sie auf eine harte Probe. Fahrig laufen die Finger dahin, flirren beinahe in ihrer steten Ruhelosigkeit: Handy, Haare, Hose, Handtasche - wie zappelige Kinder, die man zum Stillsitzen ermahnt hat und doch ständig herumgeistern. Zugzeit ist starr - geradezu sperrig - und entspricht so gar nicht dem Ideal des flexiblen, ungezwungenen Kommens und Gehens, das für unsere Zeit so typisch ist.
Das Abteil ist ein nicht lokalisierbarer Ort. Geschah etwas Außergewöhnliches im Zug, müssen wir uns mit Umschreibungen helfen: "auf der Fahrt von X nach Y", "kurz vor Z", "irgendwo zwischen A und B". Das Besondere ist aber der private Charakter dieses öffentlichen Ortes. Lauter kleine Wohnzimmer, in denen man es sich gemütlich macht. Wo wagen wir es denn sonst noch, öffentlich zu schlafen? Unter Umständen auf der Liegewiese im Freibad oder im Park. Während uns dort ein paar Meter Sicherheitsabstand beruhigen, sitzt im Zugabteil ein Fremder direkt daneben. Trotzdem fühlen wir uns sicher und gut aufgehoben. Anders würden wir es nie zulassen einfach so einzunicken.
Viele bleiben bis zum Aussteigen Fremde. Andere sitzen mit einem im selben Wohnzimmer und nützen die Gelegenheit, in vertrauten Verhältnissen das Fremde anzunehmen. Menschen, auf die man im Alltag niemals trifft. Jeder trägt eine Geschichte mit sich herum, von der man gerne ein paar Einzelheiten erfährt. Nur so ein kurzer Einblick in eine andere Existenz. Oft kann man sich auch für die eigene etwas mitnehmen.
Zugabteile sind magische Orte.

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Dienstag, 7. Juni 2005

Mythos Mensch

Liebe Mythologen!

"Every person carries within himself a rough draft, perpetually reshaped, of the story of his life." (Philippe Lejeune)

Die Autobiografieforschung ist nicht nur für Literaturwissenschaftler interessant, sondern eigentlich für jeden. Die wenigsten setzen sich tatsächlich im Laufe ihres Lebens hin und schreiben ihre Lebensgeschichte auf, aber jeder von uns trägt das Rohmaterial dafür in sich. Entscheidend ist der Umstand, dass es sich um eine Geschichte handelt und diese somit den Erfordernissen der Erzählliteratur unterworfen ist: wenige Charaktere und Themen, eine aufbauende, zusammenhängende Handlung, ein Spannungsbogen, eine Beschränkung auf zentrale Episoden und eine Erzählerfigur, die durch die Lebensgeschichte hindurchführt und kommentiert.

Da wir alle einzigartig und ganz besondere Menschen sind, haben auch wir uns eine spannende Geschichte zurechtgelegt, die wir anderen, aber besonders uns selbst so oft erzählen, dass wir mittlerweile auch selbst schon daran glauben. Das entscheidende Mittel scheint dabei eine Mythologisierung des eigenen Lebens zu sein. Ganze Abschnitte in der Biografie sind plötzlich von einem großen zentralen Thema bestimmt: die Unterdrückung durch die dominante Mutter, die Leiden eines schulischen oder beruflichen Versagers, die emotionale Verwahrlosung als Teenager, die Konkurrenz mit der älteren Schwester, der ständig alkoholisierte Vater etc. Begegnungen und Erlebnisse werden als schicksalshafte Wendepunkte erkannt und als solche präsentiert: der Auszug aus dem Elternhaus, ein längerer Auslandsaufenthalt, die Lektüre eines Buches (oder der Konsum einer anderen Konserve), ein Mensch, der plötzlich in das eigene Leben tritt, etc. Alles Erlebte, Gesehene, Empfundene muss in dieses master narrative passen oder wird als Anomalie erst gar nicht erwähnt bzw. vergessen. Die Dramatik der eigenen Existenz wird da schnell zum Filmstoff.
Da unser Konzept der eigenen Identität aber so stark an unsere Lebensgeschichte gebunden ist, müssen wir davon ausgehen, dass diese in manchen Bereichen auf Fiktion beruht. Wir sind eben total in unserer eigenen Subjektivität gefangen und uns der ständigen Verfremdung von Tasachen durch die narrative Aufbereitung von Erlebnissen nicht bewußt. Wir identifizieren uns auch besonders gerne mit Geschichten, die unsere eigene Geschichte widerspiegeln. Durch den Zwang, ständig Sinn stiften zu müssen, wird Lebensgeschichte zwangsläufig zu einer Erzählung. Der Abstraktionsprozess filtert viele Details raus und Geschichten werden sich plötzlich ähnlich. Wie können wir eigentlich so einzigartig sein, wenn wir uns dauernd in anderen Menschen bzw. Charakteren und deren Situationen wiedererkennen?

Wir können nur Sinn stiften, indem wir erzählen und erzählen, indem wir Sprache benutzen. Sprache bedeutet Flexibilität, aber auch feste Strukturen. Es ist eigentlich völlig egal, ob Sprache unsere Denkstrukturen spiegelt oder umgekehrt. Entscheidend ist, dass wir außerhalb der Regeln nicht denken können. Also pressen wir unsere Inhalte in fixe Formen. Die Lebensgeschichte ist wie jedes andere Genre: sie gehorcht spezifischen Regeln. Erst dadurch wird sie als Text für uns und andere schlüssig. Dass dabei viele Details nicht ins System passen und so manches erst adaptiert werden muss, ist völlig klar. So wird Leben zur Geschichte.

Im Umgang mit anderen Menschen gibt es eigentlich nur eine entscheidende Frage: Worin besteht deren Mythos? Meistens ist es irgendeine mehr oder weniger versteckte Form von Stolz: das Meistern einer besonders schwierigen Aufgabe, das Abstreifen von irgendwelchen Fesseln, eine besondere Begabung in irgendeinem Bereich, die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen und umzusetzen. Bei den Schwachpunkten und Minderwertigkeitskomplexen sind wir natürlich gerne Opfer äußerer Umstände. Hat man erst einmal die Mythen einer Person ansatzweise verstanden, ist schon viel gewonnen. Da werden dann plötzlich allerlei Details klar, die man vorher nicht einordnen konnte.

Gibt es denn gar keinen Ausweg aus dieser deterministischen Lebensanschauung? Natürlich gibt es den. Wir zeichnen ja nicht nur auf, sondern planen auch die nächsten Kapitel. Da wir aber mit der Hauptfigur der Erzählung so vertraut sind, kommen uns radikale Änderungen in der Handlung unglaubwürdig vor. Wir hören eben gerne die selben alten Geschichten. Dabei könnten wir langfristig denken und jetzt schon kleine versteckte Hinweise in die Erzählung einbauen, die dann ein paar Kapitel weiter mehr oder weniger plötzlich zum Riesenthema und Wendepunkt werden. Schließlich erzählen die Geschichte immer noch wir selbst.

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Sonntag, 5. Juni 2005

Nordic Walking

Liebe Powerwalker!

Vielleicht sollte ich mit zwei Zeilen aus "Da draußen" von Fettes Brot beginnen:

Ich bin der letzte der geht, wenn alle anderen walken
Bin der letzte der spricht, wenn alle anderen talken.

Früher gingen die Leute halt mit ihrem Hund spazieren, heute walken sie mit poles die über interchangeable spike tips, pads und grip systems verfügen. Daneben gibt es natürlich auch eigene nordic walking bags für die poles, holders für die pads, gloves, trainers, socks, outer- und underwear, belts (an denen man dann die holders für die interchangeable pads befestigen kann), headbands, Hotels mit eigenen tracks, Vereine, eigens trainierte Blindenhunde und eine Selbsthilfesgruppe der Anonymen Nordic Walker.
Tritt man heutzutage vor die Tür, schleicht garantiert wieder so ein Rudel Vogelscheuchen durchs Gemüse. Dabei lässt man sich aber von der Sportartikelindustrie und den Medien nicht für dumm verkaufen: Anstatt heftig Kohle für teure poles und outerwear locker zu machen, nimmt man lieber die Langlaufstecken, die man damals kaufte als der Befehl kam über winterliche Wiesen zu rutschten, und die Laufsachen, die man anschaffte, als die Aufforderung kam mit Pulsmesser bewaffnet durch die Vegetation zu trotten. So viel kritische Distanz zum Fernsehen hat man sich dann doch noch bewahrt.
Wenigstens kann man jetzt wieder den natürlichen Bewegungsablauf gut gebrauchen, den man sich damals beim Workout mit dem Elipsen-Trainer zulegte. Da konnte man zwar erst wieder nach einer Physiotherapie normal gehen, aber der Mensch passt sich schon mal gerne der Maschine an. Genau so am Laufband: Die Maschine lenkt, der Mensch denkt an etwas anderes. Es wäre ja noch schöner, wenn man auch noch bei der Sache wäre. Während sich die Beine stundenlang unten am selben Fleck abstrampeln, sieht der Kopf oben fern oder liest ein Magazin. Das kontrollierte Environment im Studio und das Gummiband des Hometrainers sind doch viel gesünder als frische Luft und Waldboden. Das haben wir damals doch alle geglaubt. Aber jetzt sind wir nicht mehr so blöd: Wir schrauben uns die Waldboden-Pads auf die poles, ziehen die Waldbodenlaufschuhe und die bequeme Waldlaufjacke an und hampeln entspannt den schönen Waldweg entlang. Da fühlt man sich dann so richtig frei.