Doris
Liebe (Geistes)abwesende!
Nach einem Jahr fast ununterbrochener Arbeit stellte ich vorgestern meine Dissertation - liebevoll Doris genannt - endlich fertig: Dienstag, 8. Jänner, 16.43 Uhr - ein historisches Datum, zumindest für mich. Nachdem ich nun schon vier Jahre am Thema dran bin und ein Jahr lang intensiv darüber geschrieben habe, möchte ich mich nicht mehr mit dem Inhalt, sondern mit dem Drumherum beschäftigen. Also:
a) Was ist eigentlich eine Diss?
b) Wozu schreibt man sie?
c) Wie geht es einem dabei?
Die breite Öffentlichkeit scheint die Antworten zu kennen:
a) ein voll fades Hirngespinst, das keiner versteht und niemand lesen will
b) damit man einen Doktortitel als Ornament vor den eigenen Namen bekommt
c) man muss sich halt ein wenig reinhängen, denn aus nichts wird nichts
Ich möchte nun die Gelegenheit beim Schopf packen und meine eigenen Antworten geben.
a) Was ist eigentlich eine Diss?
Prinzipiell gibt es einmal einen Riesenunterschied zwischen den Fakultäten. Auf der Medizinischen bekommt man den Doktortitel ohne wissenschaftliche Eigenleistung als ersten akademischen Grad. Streng genommen sind alle Ärzte also Magister, die sich Doktoren nennen dürfen. Das ist so ähnlich wie bei den AHS-Lehrern, die mit Professor angesprochen werden obwohl sie natürlich auch Magister sind. Es gibt auch Disserationen im Bereich Medizin, aber diese sind, wie gesagt, nicht verpflichtend. Auf der Naturwissenschaftlichen steht man sehr lange im Labor, im Zoo, oder auf dem Berg, bis man genug Material beisammen hat, um die Ergebnisse einer längeren Untersuchung schriftlich und bildlich darzustellen. Die Zellkultur A lebt unter den Bedingungen C um ein Drittel länger als die Zellkultur B. Wie gibts das und welche Auswirkungen hat das auf die Altersforschung? Auf der Sozialwissenschaftlichen untermauert man eine Hypothese mit einer Statistik, die auf einer Umfrage basiert.
In der Literaturwissenschaft läuft der Hase aber ganz anders. Da liest man sich erst einmal über einen langen Zeitraum in ein Gebiet ein, das sowohl aus Primärtexten, der Literatur an sich, und Sekundärtexten, also kritischen Interpretationen, besteht. Dann sucht man sich einen Bereich, in dem noch nicht so viel gearbeitet wurde, und liest sich dort komplett ein, wenn es geht. Dann braucht man einen Ansatz, wie man an die Texte herangehen will. Egal ob dieser aus der eigenen oder einer anderen Disziplin kommt, wie zum Beispiel der Anthropologie in meinem Fall, man muss sich diese Leseart erst erarbeiten, was wiederum sehr viel Lesen bedeutet. Wenn man sich dann klar darüber ist, welche Texte man genau unter welchem Blickwinkel betrachten will, müsste man eigentlich sehr viel Material noch einmal lesen, um zu überprüfen, welche Teile, Argumente, Zitate nun genau zum eigenen Thema passen. Manchmal hat man insofern Glück, als man beim ersten Lesen schon genug angestrichen bzw. exzerpiert hat. In einem nächsten Schritt präsentiert man Teilergebnisse auf einer Konferenz um herauzufinden, was Kollegen von der eigenen Arbeit halten. Idealerweise fährt man zu einer großen Konferenz, wo man wichtige Vertreter aus dem eigenen Bereich kennenlernt, Kontakte knüpft, und sich Anregungen holt. Dann setzt man sich hin und beginnt zu schreiben. Im Gegensatz zu den Natur- oder Sozialwissenschaftlern liegen zu diesem Zeitpunkt nicht alle Ergebnisse vor. Man findet also erst beim Schreiben heraus, ob sich der Ansatz wirklich durchhalten lässt oder ob man ganze Teile der Arbeit völlig neu konzipieren muss. In den Geisteswissenschaften gibt es ja kein richtig oder falsch: im Wesentlichen leistet man Überzeugungsarbeit, dass der eigene Ansatz durchaus sinnvoll ist. Man muss auch höllisch aufpassen, um auf Kurs zu bleiben. In den Geisteswissenschaften gerät man ganz leicht in ein anderes Fahrwasser. Wenn alles halbwegs glatt läuft und man ein ganzes Jahr fast nichts anderes mehr tut, ist die Diss dann doch einmal fertig.
b) Wozu schreibt man sie?
Der eigentliche Sinn der Dissertation ist es, den eigenen Forschungsbereich substanziell weiterzubringen. Das geht aber nur, wenn man den oben beschriebenen mühevollen Weg auf sich nimmt. Man kann ja nur wissen, was im eigenen Bereich noch fehlt, wenn man alle Standardwerke gelesen und mit den wichtigsten Forschern geredet hat. Dazu braucht man noch einen Ansatz, der in dieser Form noch nicht da war.
Jedenfalls hatte ich den Anspruch all dem gerecht zu werden. Dies ist aber nur nötig, wenn man wissenschaftlich wirklich ernst genommen werden will und beruflich in diesem Bereich weiterarbeiten möchte. Es gehört auch noch das richtige Maß an Selbstüberschätzung und Größenwahn dazu. Erstere braucht man, um fest daran zu glauben, dass die Wissenschaft unheimlich von den eigenen Ideen profitieren wird. Zweiteren benötigt man für die Überzeugung, dass die anderen einsehen werden, dass sie auf dem falschen Dampfer waren und ab nun geläutert und bekehrt Anhänger des eigenen Ansatzes werden.
Der Dienst an der Wissenschaft geht also immer mit der Eitelkeit des Wissenschaftlers einher, der da meint als einziger die Sachlage wirklich zu verstehen. Eine andere Form der Eitelkeit besteht darin, völlig auf die Wissenschaft(lichkeit) zu pfeifen und möglichst irgendwie einen Doktortitel abzustauben. Mit möglichst wenig Aufwand ein Maximum an Profit herauszuholen gilt ja in unserer Gesellschaft als durchaus legitim und anerkennenswert. Der Gewinn besteht aber nicht in wissenschaftlicher Reputation bei den eigenen Kollegen, sondern bei der breiten Öffentlichkeit, die akademische Titel für Indikatoren herausragender Intelligenz und Leistung hält.
Ein wichtiger Motivationsfaktor war in meinem Fall auch der Wunsch an der Uni tätig zu bleiben, was eben nur mit Doktorat möglich ist. Die freie Zeiteinteilung, die große Abwechslung und die ständigen Herausforderungen gibt es nur in wenig anderen Berufen.
c) Wie geht es einem dabei?
Nun, man lebt mehr als ein Jahr in einer anderen Welt, die niemand wirklich versteht außer man selbst. Gleichzeitig kriegt man nicht mehr mit, was in der wirklichen Welt abgeht, weil man jeden, von der eigenen Freundin angefangen, auf unbestimmte Zeit vertröstet. Man werkelt an einer ganz wichtigen Botschaft an die Leserschaft bzw. die wissenschaftliche Community, während man selbst völlig zurückgezogen fast jeden Kontakt abgebrochen hat. Während man ganz fest daran glaubt, dass die Arbeit sich genau so entwickelt, wie es sein soll, verliert man völlig den Blick dafür, was der Leser eigentlich braucht. Liest jemand anderer ein Kapitel zur Probe und stellt bestimmte Mängel fest, verteidigt man die eigene Arbeit mit Zähnen und Klauen. Diese Kleingeister verstehen einfach die Brillianz des eigenen Arguments nicht! Ich kann mich nicht täuschen! Alles ist so, wie es sein soll! Leserfreundlichkeit kotzt mich an!
Jetzt, da alles vorbei ist und der Wahn ein Ende hat, sehe ich die Sache viel relaxter. Wenn die Diss in einem halben Jahr als Buch herauskommt und man noch einmal nachbessern kann (die Ideen und Anregungen der anderen sind gar nicht so blöd, wie man dachte), freut es mich, wenn jemand eine gute Idee darin findet, die er oder sie weiterverwenden kann. Mehr ist gar nicht mehr nötig.
Die Diss war die anstrengendste und aufwändigste Arbeit, die ich je gemacht habe. Im Moment bin ich einfach nur froh, dass sie endlich vorbei ist.
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