Nespresso
Liebe Kaffeegenießer!
Im Zuge der neuen Bürgerlichkeit (siehe Wikipedia) bzw. des Neo-Biedermeiers, wie ich es nenne, arbeiten Vertreter der gehobenen Mittelschicht schon seit geraumer Zeit an einem neuen Lebensgefühl. Während wir im Bereich der sogenannten unteren sozialen Schichten und des Polit- und Geldadels noch immer eine ungebremste Akzeptanz der Eventkultur erleben (inklusive Massentourismus und Cluburlaub), besinnen sich die Jungakademiker schon längst auf die eigenen vier Wände. Als Gegenpol zum hektischen Arbeitsleben gewinnen Wohnen und Häuslichkeit erneut Bedeutung. Im Gegensatz zu früheren Generationen dient der (damals oft gekünstelte) Lebensstil nicht mehr irgendwelchen Repräsentationszwecken, um etwa die eigene Familie, den Chef oder Freunde zu beeindrucken, sondern alleine dem eigenen Wohlbefinden (Wellness). Dazu zählt vor allem Essen und Trinken. Es ist also kaum verwunderlich, dass Kochsendungen, -bücher, -utensilien und dergleichen hoch im Kurs stehen. Beim Trinken hingegen zeichnet sich ein neuer Trend ab: neben dem gepflegten Weingenuss ist plötzlich auch der Kaffee wieder in. Jeder, der etwas auf sich hält, wirft die alte Melitta Kaffeemaschine um 60 Euro auf den Müll und legt sich einen Saeco Kaffeevollautomaten um 600 Euro zu.
Nestlé, der größte Lebensmittelkonzern der Welt, hat da eine wahre Marktlücke entdeckt. Mit gigantischem Werbeaufwand (George Clooney!!) wird hier ein System gepusht, das totale Exklusivität verspricht (trotz Massenvertriebs in aller Herren Länder). Sieht man sich auf www.nespresso.com einmal um, fällt sofort auf, dass hier Kaffee wie Wein verkauft wird. Hier eine kleine Kostprobe:
"Schon bevor Sie die Lippen an die Tasse führen, riechen Sie die Aromen, die einem Espresso entströmen. Zuerst nehmen Sie die flüchtigen Aromen der leichteren Noten wahr: blumig beim Vivalto, zitrusartig beim Cosi, rotbeerig beim Decaffeinato. Rühren Sie jetzt mit einem Kaffeelöffel um. Nun kommen die schwereren, intensiveren Noten an die Oberfläche: Getreidearomen beim Capriccio, Holznoten beim Roma oder Kakaonoten beim Arpeggio."
Lifestyle pur ist super-in, um es dem Thema entsprechend auf Neudeutsch zu sagen, und viele folgen dem Ruf George Clooneys. Besonders die Frauen. Die haben in unseren Breiten sowieso eine ganz besondere Beziehung zu Italien und zur südlichen Lebensart. Der Schorsch passt da super dazu, weil der auch so rassig-italienisch aussieht. Wird man also vom neuen Bürgertum zum Kaffee geladen, heißt das mittlerweile immer Nespresso trinken. Da gibt's dann nicht nur exotische Flavours, sondern auch haufenweise Drumherum, wie eigene Tassen und Löffel, und die alles entscheidende Frage: "Und, wie schmeckt's?"
Als Gelegenheitskaffeetrinker schmeckt Kaffee für mich in erster Linie nach Kaffee. Bei Rotwein oder Tee könnte ich vielleicht noch sagen, ob die Flasche (bzw. 100 Gramm) 2, 12 oder 20 Euro gekostet hat und worum es sich ungefähr handelt, aber beim Kaffee bin ich echt überfragt. Soll ich da jetzt auch noch intensive Rotbeernoten und zitrusartige Abgänge rausschmecken, wo ich doch meistens nicht einmal weiß, wie sich Cappuccino und Espresso unterscheiden?
Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob diese neue häusliche Kaffeekultur eine Modeerscheinung ist, leichte Züge von Dekadenz aufweist, oder als wünschenswerter Versuch zu sehen ist, dem Alltagsleben eine besondere Note zu verleihen. Teuer ist das Vergnügen auf jeden Fall. Eine Kapsel kostet 35 Cent.